24.10.11

Das große Vergessen – Amnesie im Krimi

Factsheet zu

Die telefonische Mord(s)beratung
WDR5 29.10.2011 21:05 - 23:00


Das große Vergessen – Amnesie im Krimi

Zusammengestellt von Reinhard Jahn

Live aus der Gefahrstoffhalle der DASA (Arbeitsweltausstellung in Dortmund) am Vorabend der Ausstellung Mord im Museum

Das große Vergessen ist ein klassisches Krimithema: Wer bin ich? Wie komme ich hierher? Was ist mit mir passiert? Und vor allem: Bin ich Opfer oder Täter? Die Amnesie-Klassiker stammen von Joy Fielding ("Lauf, Jane, lauf") und Michael Robotham ("Anmesie"). Aber auch Meg Gardiner, Andreas Hoppert, John Katzenbach und Martin Suter haben aus dem totalen Blackout ihrer Hauptfiguren faszinierende Psycho-Thriller gemacht.

Die Krimiexperten Manfred Sarrazin (Krimibuchhandlung Alibi), Reinhard Jahn (Bochumer Krimiarchiv) und die Journalistin Ingrid Müller-Münch stellen die besten Amnesie- und Blackout-Krimis vor. Und helfen den Anrufern der telefonischen Mordsberatung, sich an besonders spannende oder einprägsame Krimi-Leseerlebnisse zu erinnern. Außerdem gibt das Krimi-Kompetenzteam natürlich auch wieder aktuelle Empfehlungen und Tipps. Also auf keinen Fall vergessen: Die telefonische Mordsberatung auf WDR5
Moderation: Thomas Hackenberg
Redaktion: Petra Brandl-Kirsch


Beispiele siehe hier
Das aktuelle Krimi-Ranking: Die elf besten Amnesie-Krimis


Amnesie - im Krimi ...

...wird meist mit der klassischen RETROGRADEN Amnesie erklärt: ein Erinnerungsverlust, der durch ein Schädel-Hirn-Trauma (Schlag auf den Kopf) oder eine ungeheure psychische Belastung (Schock) ausgelöst worden ist.
Klasssischer Anmesie-Krimi: "Lauf Jane, lauf" von Joy Fielding

Nicht ganz so oft wird die ANTEROGRADE Amnesie im Krimi verwendet - ein Erinnerungsverlust, der die Zeit NACH dem auslösenden Ereignis betrifft. Die Person kann sich aktuelle Geschehenes nicht mehr merken.
-Aktueller Titel: Meg Gardiner: Die Strafe
-Aktuelle Titel auch: S.J. Watson: Ich.Darf.Nicht.Schlafen.

Klassisches Kino-Vorbild dafür: "Memento" von Christopher Nolan aus  2000
Ein Film, der in zwei Handlungslinien erzählt, wie ein Mann den Mord an seiner Frau aufklärt, wobei er sich nie daran erinnern kann, was er gerade getan hat.

Der klassische Amnesievorfall im Krimi ist natürlich auch aus der Zeit der hardboiled-Romane bekannt: Der Held wacht morgens neben einer - meist toten - Blondine auf und kann sich nicht erinnern, was passiert ist. Das ist ein kongrade Amnesie - der Verlust der Erinnerung an das auslösende Ereignis der Amnesie. Den meisten von uns ganz normal und ohne tote Blondine als FILMRISS nach exzessivem Alkoholgenuss bekannt.
-Filmbeispiel: Hangover (und HANGOVER II)


Bei den hier erwähnten Amnesie-Formen verlieren die Patienten nicht die Fähigkeiten und Kenntnisse des sogenannten "Alltagswissens" - das heißt, sie sind durchaus in der Realität orientiert und verfügen über das grundsätzliche zu ihrer Person gehörende Allgemeinwissen.
Zum Thema "Unglaubwürdige Anmesie im Hollywoodfilm" ein Beitrag aus der Zeit:
http://www.zeit.de/2005/01/Ged_8achtnis


Authentische Amnesiefälle der jüngsten Zeit waren etwa:

"Herr Freitag"
...ein Mann Ende 40, der Anfang 2011 in Köln bei der Polizei auftauchte, nachdem ihm in der Gegend um den Bahnhof herum klar geworden war, dass er das Gedächtnis verloren hatte. Herr Freitag -   so genannt nach dem Tag, als er sich meldete, blieb im Krankenhaus, während die Polizei öffentlich nach Informationen über seine Identität suchte. Freunde und Bekannte erkannten in ihm einen 54jährigen Hildesheimer - aber auch nachdem seine Identität feststand, gab Herr Freitag an, sich nicht daran erinnern zu können. Wie bei vielen Amnesie-Fällen stellte sich auch bei ihm die Frage, ob er die Amnesie ganz oder teilweise nur simulierte.


Der "Piano Man"
...war ein junger Mann, der 2005 an der englischen Küste bei Sheerness aufgefunden wurde und angeblich das Personal des Krankenhauses, in das er gebracht wurde, durch sein perfektes Klavierspiel verblüffte. Die Spekulationen um die Identität des "Piano Man" schossen schnell ins Kraut. Letztendlich offenbarte sich der "Piano Man" als ein 20-Jähriger aus Bayern, der auf See einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Inwieweit er seine Amnesie vorgetäuscht hatte oder sie tatsächlich auf seiner Psychose oder einem autistischen Krankheitsbild beruhte, ist nicht geklärt.
Und auch sein angeblich großartiges Klavierspiel soll eine Medienerfindung gewesen sein - jedenfalls sagten Krankenhausangestellte später, er habe nur auf dem Klavier "geklimpert".



Die Amnesie als Thema kam mit der Entwicklung der Psychoanalyse Mitte des 20. Jahrhundert in den Krimi. Sie führte den (zunächst erst einmal) männlichen Helden auf die Frage zurück:
Bin ich gut oder böse, bzw bin ich schuldig (die tote Blondine!) oder nicht?

Dieses "ewige" Thema zieht sich durch bis in die aktuelle Literatur - der Neo-Bond "Jason Bourne" wacht zu Beginn am Ufer des Mittelmeeres auf und kann sich nicht erinnern, wer er ist. Und fatalerweise führen auch bei ihm die meisten Spuren, die er auf der Suche nach seiner Identität aufnimmt, nur wieder zu falschen (also gefälschten) Identitäten.

Der Held eines Amnesie-Romans ist meist unschuldig - was er nach längerem Nachforschen entdeckt. Diese Strecke der Suche nach sich selbst bietet einem Erzähler viele Möglichkeiten, spannende und interessante Situationen zu erfinden, die den Leser fesseln. Das funktioniert um so besser, je näher man als Leser bei der Hauptfigur ist.

In den Achtzigern kam die Amnesie im Krimi auch zu den Frauen. Und fast analog zur Initialsituation des harten Kerls, der neben der toten Blondine aufwacht, sehen sie weiblichen Hauptfiguren sich in den Romanen plötzlich nach ihre Gedächtnisverlust mit einem (Familien-)Leben konfrontiert, von dem sie nicht wissen, ob es wirklich ihr Leben ist (oder war.) Diese Romane sind teilweise auch ein Stück der Selbstvergewisserung der zeitgenössischen Frauen und der Bestätigung oder der Ablehnung des damaligen Rollenbildes, das sich gerade im Rahmen der Emanzipationsbewegung zu wandeln begann.

ENDE



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