26.9.08

Stan Jones: Gefrorene Sonne

Alaska, am Rande des Permafrost, in Chukchi, einer Siedlung, in der städtisches Leben und Gebräuche der der Ureinwohner aufeinandertreffen. Nathan Active ist Polizist in Chukchi, ein State Trooper, der hier in der Grenzwelt zwischen Weißen und Inupiaq genau richtig ist - Sohn einer Eskimo-Mutter aufgewachsen bei Pflegeeltern in der Stadt, jetzt wieder im land seiner Väter - als Vertreter des Gesetzes.

Jaron Palmer hat eine Frage, einen Auftrag für Nathan: Der Prediger aus Chukchi bittet Active, seine Tochter zu suchen: Grace. Die ehemalige Schul-Schönheitskönigin, die Ausreißerin, von der man zuletzt nur noch hörte, dass die im Rotlichtbezirk der nächsten Stadt gesehen wurde. Scham und Schande für die Familie. Aber Palmer senior möchte wissen, was mit seiner Tochter Grace los ist - und Nathan Active möchte helfen. Und ein wenig ist er auch fasziniert vom Bild Grace Palmers, das der Vater ihm gibt. Dem Bild der Schönheitskönigin.

Die Chance für Ermittlungen in der Stadt sind gut: Nathan wird zu einem Computerseminar dort hingeschickt er trifft einen befreumdeten Kollegen, nimmt Grace Palmers Spur auf und findet, was man erwarten kann: eine Karriere nach unten. Barschlägereien, Verhaftungen, Hinweise auf Prostitution. Bis zu einem Punkt vor einigen Jahren, and em sich Grace Palmers Spur plötzlich abreißt. Es gibt keine Hinweis mehr auf sie. Dafür auf eine andere Frau - Angie Ramos, angeblich eine Freundin von Grace.
Ist Grace tot? Eines der nicht identifizierten Opfer, deren Akten sich Avtive ansieht? Hat etwa Angie Ramos Grace getötet und sich dann abgesetzt?
Active hat also eine neue Spur: Angie Ramos. Er stöbert sie in einer bizarren Umgebung einer Stadt auf, die von der Fischverarbeitung, von einem einzigen Unternehmen lebt, in dem Angie als Arbeiterin untergekommen ist.
Angie? Nathan stockt er Atem, als er die Frau sieht, deren Spur er verfolgt hat. Er ist sicher, dass es Grace Palmer ist.
Womit sich seine Hypothese, dass Angie Grace getötet haben könnte, auf einmal vollkommen umkehren: hat Grace Angie getötet, um mit deren Identität weiter zu leben.
Und noch etwas bereitet Nathan Active Sorge: was ist das für ein Gefühl, das ihn bis hierher zu Angie/Grace getrieben hat, das ihn jetzt weiter treibt?

Und damit ist erst die Hälfte der Geschichte erzählt,. die Hälfte der Geschichte, die eigentlich nicht die Geschichte eines Kriminalfalles ist, sondern die Geschichte von Nathan Active, der mit einem Kriminalfall konfrontiert wird. Mit einem Fall, der immer neue, bizarrere une bedrückendere Dimensionen annimmt, je näher sich der State Trooper mit Grace Palmer und ihrer Familie beschäftigt.

Ein äußerst intensiver Roman, Krimi und Psychogramm in einem, voller bunter, eindringlicher atmosphärischer Schilderungen vom Leben in Alaska am Rande des ewigen Eises.

Stan Jones:
Gefrorene Sonne.
Unionsverlag

24.9.08

Silvia Kaffke: Das rote Licht des Mondes

Duisburg Ruhrort 1854. Das Örtchen vor den Toren Duisburg ist zur Boomtown in Sachen Kohle und Stahl geworden - Zechen, Eisengießereien, Stahlwerke schießen aus dem Boden, der Ort scheint aus allen Nähten zu platzen.
Hier lebt Lina Kaufmeister, Mitte zwanzig und unverheiratet, eine nach den Begriffen der Zeit "alte Jungfrer". Als Tochter eines Reeders und Spediteurs muss sie ihrem stoffeligen Bruder und seiner gebärfreudigen niederländischen Gattin das Haus führen, obwohl sie lieber als Schneiderin auf eigenen Beinen stehen möchte.
Aber das geht nicht - jedenfalls nicht so einfach - in einer Zeit, in der eine Frau nicht von sich aus eine Wohnung mieten und schon gar kein Bankkonto eröffnen darf.
Es ist Nacht, es ist nebelig, als Lina auf einer einsamen Straße vorm Ort zwei schrecklich zugerichtete Leichen findet, Kinder, arme Geschöpfe aus den Elendsquartieren der Stadt. Ein Fall für Commissar Robert Borghoff, zusammen mit zwei Schutzmännern die gesamte Polizeimacht Ruhrorts. Ist der Täter einer der wallonischen Fremdarbeiter, die von den Kohlebaronen herangeschafft werden? Oder einer der Binnenschiffer, die Ruhrort regelmäßig anlaufen?
Im Laufs einer Ermittlungen trifft der Commissar immer wieder auf Lina Kaufmeister, die ihre ganz eigenen Spuren in diesem Fall verfolgt. Und natürlich kommen die beiden sich bei der Aufklrung des Falles auch sehr, sehr nahe... und die Lösung des Falles ist wirklich eines "historischen Krimis" würdig.
Viel Spannung, eine wunderbare Heldin, das bunt und detailreich geschilderte Milieu zu Mitte des 19. Jahrhunderts und dazu noch ein ungewöhnlicher Kriminalfall: Silvia Kaffke ist hier ein Meisterstück gelungen.

Silvia Kaffke
Das Rote Licht des Mondes
Wunderlich

19.9.08

Krimis und Bücher - Bücher in Kriminalromanen

Dass Bücher tödlich sein können, wissen wir spätestens seit "Der Name der Rose" (1980) von Umberto Eco , ein internationaler Bestseller. Die ganze Geschichte des mittelalterlichen Mönches William von Baskerville ist ein "Buch im Buch", so die Fiktion des "Herausgebers", der angeblich 1968 ein 1842 erschienenes Buch in die Hände bekommt, das wiederum eine Übertragung einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert ist: eben jene Erzählung von William von Baskervilles Gefährten Adson von Melk, dem literarischen "Watson" der Sherlock-Homes-Figur Williams.

Adson und William

Erzählt wird die Geschichte von sieben Tagen, die Adson und William im November 1327 in einer Cluniazenserabtei im Appenin verbringen, und je weiter die Geschichte mit geheimnsvollen Todesfällen unter den Mönchen voranschreitet, desto deutlicher wird, dass die Klosterbibliothek im Mittelpunkt des Geheimnisses steht, und zwar ein geheimer Bereich dort, der "Finis Africia" genannt wird. Und ein Buch ist die Mordwaffe, ein Buch, dessen Seiten der Urheber der Morde mit einem Gift präpariert hat, das jeder Leser zu sich nahm, wenn er mit angefeuchtetem Finger die Seiten umblätterte. Und ein Buch ist das Motiv, der Anlass aller Morde: die - verschollene oder nie geschriebene - Poetik der Komödie des Aristoteles. Und die Bibliothek nimmt ihr Geheimnis mit, als sie im großen Finale des Romanes niederbrennt.

Der Dante Club

Ein geheimnisvolles Buch auch als Thema in "Der Dante Club" von Matthew Pearl (2003), der seine Geschichte rund um Dantes "Göttlicher Komödie" entwickelt. Schauplatz ist Boston in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend das intellektuelle und akademische Boston. Aufgeschreckt wird die Gesellschaft durch brutale Morde an einem Richter, einem Pastor und einem Aufsichtsrats des Harvard-Universität. Und es bedarf schon eines literarisch versierten Polizisten, um auf die Spur des "Dante-Clubs" der Universität zu kommen.
Dantes Text über die "Hölle" aus der "Göttlichen Komödie" als Vorbild für die Methode der Morde - die "Göttliche Komödie, die gerade von Henry Wadsworth Longfellow übersetzt wird. Seine Texte diskutiert der Dichter in eben jenem "Dante Club" mit seinen Dichterfreunden und seinem Verleger. Aber was hat der Dante Club wirklich mit den Morden zu tun? Können die Dichter und Akademiker die Taten aufklären - und weitere verhindern, weil sie Dantes Text genauer und besser zu deuten wissen als der Polizist?
Die Geschichte der ersten vollständigen Übersetzung des "Göttlichen Komödie" in den USA wird verwoben mit einem prallen Gesellschaftsdrama aus den USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Wo bei Umberto Eco und Matthew Pearl die Literatur und das Buch noch Gegenstand und Auslöser der Kriminalgeschichte ist, da tritt bei Manuel Vasquez Montalban der Betrieb ums Buch in den Mittelpunkt des Krimis: "Undercover in Madrid" ist die mit ätzendem Sarkusmus erzählte Geschichte der Triebe und Umtriebe der (spanischen) Literaturszene.
Ein Literaturpreis von ungeheuerer Höhe ist gestiftet worden und zur Preisverleihung finden sich alle, die in Frage kommen oder irgednwie beteiligt sind, in einem Madrider Nobelhotel zusammne. Niemand weiß, wer der Preisträger sein wird - und natürlich weiß auch niemand, wer der Mörder ist, dessen Tat bald aufzuklären ist. Der Fall für Montalbans Schnüffler Pepe Carvalho zeichnet ein bitterböses Bild der Literaturszene mit ihren Hofschranzen und Geschäftemachern, den selbsterklärten Literaturliebhabern und den verschwurbelten Leidenschaften die sie pflegen.

Der Tod eines Kritikers

Natürlich kann man auch Martin Walsers Abrechnung "Tod eines Kritikers" als Kriminalroman aus der Literaturszene lesen - oder auch nicht. Der Schriftsteller Hans Lach sieht sich nach einer schrillen Literaturfete im Haus seines Verlegers auf einmal unter Verbrechens-Verdacht: er soll etwas mit dem Verschwinden - und möglicherweise dem Tod? - eines Großkritikers zu tun habe, mit dem er zuletzt auf der Fete zusammengetroffen ist. Was Hans Lach dann in eigener Sache in Gesprächen mit allen Beteiligten ermittelt, trägt zwar formal Züge eines Kriminalromans, aber es ist doch in Wirklichkeit ein Stück Literatur-Literatur, in dem ein Autor seine obsessive Fixierung auf die Literaturkritik und einen bestimmten Kritiker abarbeitet.

Das Plagiat

Nicht ganz so ätzend wie bei Vasquez Montalban und nicht so besessen wie bei Martin Walser geht es dagegen in "Das Plagiat" von Rex Stout zu. Das ist ein ein "richtiger" Krimi - Nero Wolfe, schwergewichtiger Meisterdetektiv in New York und ständiger Sparringspartner seines Sekretärs und Mannes für alle Fälle Archie Goodwin wird von einem Autoren- und Verlegerkommittee zur Aufklärung eines literarischen Verbrechens engagiert: In den vergangenen Jahren tauchten insgesamt vier Mal stets kurz nachdem ein Autor einen Bestseller veröffentlicht hatte, unbekannte Autoren auf und behaupteten, der Erfolgsautor habe sich dreist aus ihren Manuskripten bedient, die sie früher einmal - erfolglos natürlich - bei Verlagen oder Agenturen eingereicht hatten. Sind also die Bestseller-Autoren allesamt literarische Diebe? Oder hat man ihnen nur übel mitgespielt? Für einen Meisterdetektiv wie Wolfe ist es natürlich ein Klacks, mittels eines Stil- und Sprachanalyse zu ermitteln, das hinter allen vier angeblichen Plagiatsfällen offenbar nur ein einziger Drahtzieher steckt. Aber den zu ermitteln ist dann um so schwerer, zumal er damit beginnt, alle möglichen Belastungszeugen der Reihe nach zu ermorden. "Das Plagiat" spielt Ende der 50er Jahre in einem derart beschaulichen New York, dass man es kaum für möglich hält, und ist ein nettes keines Kabinettsstückchen aus der Nero-Wolfe Reihe, mit der Rex Stout weltbekannt wurde.

Ohne Manuskripte wären die Plagiate in Rex Stouts Roman nicht möglich gewesen - und Manuskripte stehen auch im Mittelpunkt von zwei Krimis, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
In "Das Manuskript" von Val MacDermid, der Meisterin des britischen Thrillers, bekommen wir es mit Penny Varnavides zu tun, erfolgreiche amerikanische Autorin einer Jugendkrimiserie. Sie stirbt während ihres Aufenthaltes in London durch eine explodierende Bierflasche - an sich keine große Sache, die leicht als Unfall durchgehen könnte, wenn die Polizei nicht herausfinden würde, dass Penny für ihren neuen Roman eine höchst unkonventionelle Mordmethode erfunden hat: eine explodierende Bierflasche. Hat das Leben hier die Kunst imitiert - oder ein Mörder die Idee für eine Mordmethode gestohlen?
Da niemand ausser Pennys Expartnerin Meredith kaum jemand das Manuskript kennen konnte, hält sich die Polizei an sie, und in ihrer Not läßt Meredith ihre Freundin Lindsay Gordon aus Kalifornien als Retterin in der Not einfliegen. Und Lindsay tun sich bei der Suche nach dem Mordmotiv die Abgründe der Verlagsbranche und der Literaturszene auf. Und es stellt sich weniger die Frage, wer von Pennys Tod profitiert, sondern vielmehr, wer am meisten?

Ein Manuskript als Gegenstand des Ränkespiels der unterschiedlichsten Gruppen ist auch "Das Kastler-Manuskript". Der Spionage- und Action-Thriller von Robert Ludlum opriert nach der einfachen Formel: Groß ist nicht groß genug. Als Experte für weltumspannende und hochkarätige Verschwörungen erzählt Robert Ludlum zuerst einmal davon, wie FBI-Chef J. Edgar Hoover im Auftrag einer Gruppe einflussreicher Männer eleminiert wird und wie man sich Hoovers geheimes Archiv mit zahllosen brisanten Informationen über die Polit- und Wirtschaftselite der USA aneignet. Doch das Material ist nicht komplett - und da kommt der Thriller-Autor Peter Kastler in Spiel, der als unwissendes Trüffleschwein der Clique die fehlenden Unterlagen beschaffen soll. Für Peter Kastler wird die Sache zu einem Abenteuer auf Leben und Tod, bei dem er nur nach und nach begreift, dass er lediglich eine Figur in einem Spiel ist, dessen Regeln er nicht begreift - und bei dem absolut offen ist, ob "Das Kastler-Manuskript" jemals vollendet wird..

Und natürlich gehören auch wirklich unvollendete Kriminalromane echter Autoren zum Thema "Krimis und Bücher". Aus einem nachgelassenen Fragment eines Philip Marlowe-Romanes von Raymond Chandler (1888 - 1959) machte Robert B. Parker - den Krimikenner aufgrund seiner Parker-Serie als Chandlers legitimen literarischen Erben betrachten, im Jahr 1989 einen "neuen" alten Marlowe-Krimi: "Poodle Springs" (deutsch: "Einsame Klasse") zeigt und Phil Marlowe als fast gesettelten Ehemann, der sich mit der Perspektive konfrontiert sieht, schon bald nur noch Gatte seiner Frau, als "der Mann an ihrer Seite" seine Tage im mondänen Wohlstandsghetto Poodle Springs zu verbringen. Das einzige, was da totgeschlagen wird, so scheint es, ist die Zeit. Aber natürlich kommt alles ganz anders und Marlowe ist schon bald wieder auf vertrautem Terrain im Einsatz.

Aus nachgelassenen Unterlagen der britischen Autorin Dorothy Sayers (1893 - 1957) über Lord Peter Wimsey und seine Gattin Harriet Vane hat in jüngst die Britin Jill Paton Walsh neue Kriminalgefälle für "Lord und Lady Wimsey" geschaffen. "Mord in mageren Zeiten" führt uns ins England von 1940. Harriet Vane - jetzt Lady Wimsey - hat sich mit ihren Kindern aufs Land zurückgezogen. Es ist Krieg, in der Nähe des Landsitzes ist ein Stützpunkt der Royal Air Force . Dann liegt eines Tages eines der Mädchen tot auf der Straße, das den Soldaten die Zeit bis zu ihren Einsätzen verkürzte. Ein Mord, dessen Aufklärung den ganzen Scharfsinn von Lord und Lady Wimsey fordert.


Umberto Eco: Der Name der Rose, Hanser
Matthew Pearl: Der Dante Club, Hoffmann und Campe
Manuel Vasquez Montalban: Undercover in Madrid
Rex Stout: Das Plagiat (vergriffen)
Martin Walser: Tod eines Kritikers
Val McDermid: Das Manuskript
Robert Ludlum: Das Kastler-Manuskript
Robert P. Parker / Raymond Chandler: Einsame Klasse
Jill Paton Walsh / Dorothy L. Sayers: Mord in mageren Zeiten

18.9.08

Gut und Böse sind nicht schwarz und weiß

Mit "Verstummt" liefert Karin Slaughter eine wirkliche gelungene Überraschung für alle Thriller-Fans.

Von Reinhard Jahn

Wie gut es doch ist, dass wir die Guten in einem Krimi gleich erkennen. Den hart arbeitenden Cop zum Beispiel, einen wie Michael Ormewood vom Atlanta Police Department. Nach langen Jahren bei der Sitte ist er jetzt der Mordkommmission, und gleich sein erster Fall. Eine grässlich verstümmelte Prostituierte ist in einem heruntergekommenen Sozialbau gefunden worden. Das geht ihm an die Nieren. Und auch privat hat Michael es nicht leicht. Seine Ehe ist am Ende, er hat ein Verhältnis mit der Teenager-Nachbarin, macht sich Sorgen seinen behinderten Sohn. So weit, so schlecht. Dass man ihm für die Mordermittlung dann noch den freakigen Special Agent Will Trent als Partner gibt, liefert in jedem stinknormalen Polizeithriller dann das grundsätzliche Konfliktpotential, an dem unser Held wachsen und reifen kann: Es wird alles seinen geordneten Gang gehen, denken wir: Stress mit den Kollegen, tiefe emotionale Krise, showdown mit dem Serienkiller, der inzwischen noch ein paar Prostituierte Opfer getötet hat.

Soweit, so gut fängt auch Karin Slaughters neuer Thriller an. Doch dann wechselt sie in "Verstummt" auf einmal die Perspektive und alles wird ganz anders, viel, viel besser als man es nach ihren routinierten Serienromanen um die Pathologin Sara Linton erwartet hat.
Sobald Slaughter sich nämlich, soviel kann verraten werden, diesem Special Agent Will Trent zuwendet und auch der undercover-Polizistin Angie P., die bei Michel Ormewoods Ermittlungen nur eine Nebenrolle gespielt hat, wird aus der Geschichte ein wirklicher Thriller - eine scharf beobachtete und geschickt eingefädelte Familien- und Polizeigeschichte, die - auch das hat man selten - von Seite zu Seite immer spannender wird. Denn plötzlich ist nichts mehr so überschaubar simpel schwarz und weiß, wie es auf den ersten Seiten wirkte. Wir erfahren nämlich, dass die Politzistin nicht immer die ganz Guten sind, und wir müssen auch lernen, dass nicht für jede Mordserie der sattsam bekannte schrille Psycho-Freak veranwortlich ist, mit dem sich Krimi-Autoren gern aus der Verpflichtung zur überzeugenden Motivierung ihrer Täter stehlen.

Karin Slaughter:
Verstummt
Blanvalet,
480 Seiten

17.9.08

Tana French: Grabesgrün

Irland. Archäologen arbeiten an einer Ausgrabung bei dem Örtchen Knockknarree in der Nähe von Dublin, um noch Fundstücke zu sichern, ehe das Areal dem einer Schnellstraße weichen wird.
Da wird ein totes Mädchen auf dem Altarstein gefunden, der im Mittelpunkt der Ausgrabung steht. Es ist die junge Katy Devlin.

Ein Fall für die beiden Detectives Robert Ryan und Cassie Maddox, ein Detektive-Gespann, wie es eigentlich "normaler" nicht sein könnte: eine Kumpelfreundschaft, eine berufliche und private Vertrauensbeziehung, bei der Robert auch schon mal eine Nacht auf Cassies Couch verbringt, wenn man zuvor gemeinsam zuviel gebechert hat.

Soweit, so gut - was Cassie nicht weiß, ist, dass der Fall der toten Katy für Robert eine ganz besondere Bedeutung hat: er stammt aus Knockknarree, und er war als Kind - im Alter von Katy - in einem mysteriösen Fall verwickelt, der bis heute nicht aufgeklärt ist: zwei Kinder aus seiner Clique sind damals verschwunden, im Wald neben dem die Ausgrabungssstätte liegt, und Robert ist als einzigem Kind nichts geschehen. Doch er kann sich bis heute nich erinnern, was seinen Freuden damals zugestoßen ist. Natürlich wird dieses Kidnheitstrauma bei den Ermittlungen im Fall Katy Devlin noch ein Rolle spielen - aber bis es soweit ist, bekommen wir in diesem wirklich dicken (500 Seiten) Debütkrimi sehr souverän und kenntnisreich, farbig, lebendig und gut erzählt, wie die Ermittlungen von Robert und Cassie und ihrem Kollegen Sam ein ums andere mal ins Leere laufen. Bis Robert am Ende dann - natürlich - doch noch den richtigen Schlüssel zur Lösung des Mordrätsels findet.

GRABESGRÜN ist ein Debüt, das berauscht, mit Personen so lebensnah um lebendig, dass man sie lieben muss und erzählt mit einem Charme, aber auch einer Präzision, die süchtig macht.

Der Verlag gibt sich spröde mit den Angaben zur Autorin: Tana French wurde in den USA geboren, wuchs aber auch in Italien und Malawi auf. Seit 1990 lebt sie in Dublin. Sie machte eine Schauspielausbildung am Trinity College und arbeitet für Theater, Film und Fernsehen.
Grabesgrün wurde als das beste Debüt mit dem Edgar Allan Poe Award der Amerikanischen Krimiautoren ausgzeichnet. Zu Recht.

Kein Zweifel, man merkt der Komposition des Buches die Begabung, aber auch die Routine der Bühnen- und Fernseharbeit an. Besonders deutlich, besonders gut ist dies bei den Dialogen zu sehen - den langen Szenen, in denen sich die Personen umkreisen, scheinbar alltägliches reden, aber doch etwas anderes meinen.

Da mag man es nicht so recht glauben, wenn die Autorin sagt: "Wenn ich mit einem Buch beginne, habe ich keine Ahnung. wohin mich die Geschichte führen wird. Alles, was ich habe, ist eine Figur und eine vage Ahnung der Richtung, in die sie sich bewegt. Und eine Menge Kaffee."
Was GRABESGRÜN offen lässt - das Geheimnis, was Robert Ryans Freunden seinerzeit im Wald Knockarree passiert, wird hoffentlich in einem der nächsten Bücher gelöst. In Großbritannien ist bereits THE LIKENESS (Die Ähnlichkeit) von Tana French erschienen. Dort ist nicht mehr Rob Ryan der Erzähler, sondern Cassie Maddox.

Tana French:
Grabeagrün
Scherz-Verlah
Hörbuch im Argon Verlag
Deutsche Fassung gekürzt 440 Minuten (das sind knappe acht Stunden)
Englische Fassung "In The woods" Länge 20 Stunden

16.9.08

Komm schon, Baby - lach dich tot!

Krimi und Humor

Von Reinhard Jahn

Können Verbrechen komisch sein? Darf man darüber lachen?
Wo bleibt der Humor bei Mord und Totschlag?
Natürlich kann Verbrechen auch komisch sein, natürlich gibt es Komik im Kriminalroman. Das Kunststück ist halt, die komische, humorvolle Komponente - das Lachen - mit der ernsthaften Komponente in Einklang zu bringen.
Die wenigsten Autoren können das - deshalb ist der komische Kriminalroman auch ein seltenes Gewächs, noch seltener ist der wirklich gelungene komische Krimi.

Fangen wir aber erst einmal mit einer Negativauswahl an:
Was ist nicht komisch?
Definitly nicht komisch sind Autoren wie Henning Mankell mit seinem Kommissar Wallander oder Donna Leon mit Commissario Brunetti. Mankells skandinavischer Bedenkenträger, der an der Welt und der Umwelt verzweifelnde Wallander, hat ebenso wenig komisches Potential wie sein Kollege Brunetti, der zweiflerische Gondel-Cop.
Denn beiden fehlt Ironie und Selbstkritik. Wallander und Brunetti - besser: Mankell und Leon nehmen die Welt, die sie beschreiben als Reflexionsfläche ernsthafter Diskurse: über Terrorismus, Korruption, Ausländerfeindlichkeit oder was auch immer. Aber wenn solche großen Dinge wie etwa der Verfall eines Gesellschaftssystems durchdekliniert werden, dann ist dort kein Platz für eine Distanz, wie Selbstironie oder Sarkasmus, Zynismus oder Humor sie erfordern.
Humor ist sozusagen der zweite Blick auf die Welt, der andere Blick: Der, der sich nicht auf das große, sondern das kleine richtet. Der nicht das offensichtliche, sondern des hinter- und untergründige in den Fokus nimmt.

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Der beste Witz der Welt:
Sherlock Holmes und Dr. Watson machen Camping. Nach einer guten Flasche Wein legen sie sich hin und schlafen ein. Ein paar Stunden später wacht Holmes auf und stößt seinen Freund an: "Watson, schauen Sie zum Himmel und sagen Sie mir, was sie sehen!"
Watson: "Ich sehe unzählige Sterne"
Holmes: "Was schließen Sie daraus?"
Watson überlegt einen Moment: "Astronomisch gesehen schließe ich, dass es Millionen von Galaxien und Milliarden Planeten gibt. Astrologisch stelle ich fest, dass der Saturn im Sternbild des Löwen steht. Horologisch folgere ich, dass es ungefähr viertel nach drei Uhr morgens ist. Theologisch erkenne ich, dass Gott mächtig ist und wir alle klein und unbedeutend sind. Meteorologisch nehme ich an, dass morgen ein wunderschöner Tag sein wird. Und was folgern Sie?"
Holmes: "Dass irgendein Mistkerl unser Zelt gestohlen hat..."

Lachen mit Poirot und Wimsey

Viele klassische Helden der Kriminalliteratur haben es, das gewisse Etwas, die gewisse Distanz zu sich selbst, einen Sinn für Ironie und Selbstironie. Hercule Poirot, der kleine belgische Meisterdetektiv aus Agatha Christies Romanen zum Beispiel. Als geborener Meister der Selbstinszenierung choreografiert er seine Auftritte bis ins absurde Detail, ohne sich dabei aber zum Clown zu machen. Ganz im Gegenteil - dadurch, dass Mrs Christie soviel Liebe auf die Schilderung der kleinen Schrullen verwendet, die Figur auch in ihren Schwächen so sorgfältig ausmalt, bringt sie uns Poirot viel näher, als es bei einem klaren, ungebrochenen Protagonisten jemals gelingen könnte: Supermänner haben eben keinen Humor, Supermänner werden bewundert, aber man findet sie selten sympathisch.

Lord Peter Wimsey ist auch so ein Fall, wenn auch ein etwas eleganterer, denn eigentlich war der Gentleman-Detektiv von Dorothy Sayers bereits als Parodie auf die existierenden Meisterdetektive angelegt, eine Parodie, die er glücklicherweise nicht wurde, weil er Harriet Vane traf, die Frau seines Lebens, die er vor dem Galgen rettete und damit zum Mann, Liebhaber, Gatten wurde.

Humor in allen Formen bringt uns also Menschen nahe und näher - Humor rundet eine Persönlichkeit ab und lässt uns schneller und leichter glauben, dass dieser Mensch, dieser Held, all diese unglaublichen Dinge erlebt, von denen erzählt wird.

Das funktioniert um so besser, je besser der Erzähler - der Autor - sein Handwerk beherrscht und es versteht, Ironie und Humor nicht nur in Äußerlichkeiten zu schildern, sondern ihn auch in der Sprache zu verweben:
"Die Haupthalle des Sternwoodschen Hauses war zwei Stockwerke hoch", erzählt Raymond Chandlers Philip Marlowe. "Über den Türflügeln, die eine Herde indischer Elefanten durchgelassen hätten, war auf einem breiten bunten Glasfenster ein Ritter im dunklen Harnisch bei der Errettung einer Dame zu sehen, die an einem Baum gefesselt war und praktischerweise nichts weiter trug als eine Menge langes Haar. Der Ritter hatte kontaktfreudig das Visier hochgeklappt und fummelte an den Stricken herum, mit denen die Dame am Baum festgezurrt war." (Der tiefe Schlaf)

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Der zweitbeste Witz der Welt:
Zwei Jäger sind im tiefsten amerikanischen Wald auf Pirsch, Plötzlich bricht der eine zusammen. Sein Kollege reißt sein Handy heraus und ruft den Notruf an: "Mein Gott, ich glaube, mein Kumpel ist tot!"
"Sind Sie sicher?", fragt der Operator in der Notrufzentrale.
Eine Pause. Der Operator hört einen Schuß. Und dann sagt der Anrufer: "Ja."

Dünner Mann und allergischer Mann

Also das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu sehen, das übliche Schema aufzubrechen und bis ins Gegenteil zu verdrehen, Dingen eine neue Bedeutung zu geben oder aber auch den Lauf der Dinge so sein zu lassen, wie er ist: zufällig, anarchisch, nicht geordnet - das macht das Wesen des Witzes und des Humors aus.

Eines Witzes, den etwa in Detektiv-Klassikern wie "Der dünne Mann" von Dashiell Hammett Nick und Nora Charles in ihren srewball-Dialogen zelebrieren - die Kriminalgeschichte ist hier zum Teil nur Bühne für eine Gesellschafts- und Ehekomödie - die allerdings wesentliche Erkenntnisse über das Mann-Frau-Ding in den besseren Kreisen der 20er Jahre vermittelt. Nebenbei, sozusagen.

Der Witz im Alltag suchen und ihn auch zu finden, das ist eine Begabung, die auch Gunter Gerlach hat. Der Hamburger Autor hat Bartzsch erfunden, den Detektiv der unter 99 Prozent aller bekannten Allergien leidet.

"Bartzsch!" stellt er sich in der Regel vor. "Wie der Kindermörder nur mit z."
Dass er als multipler Allergiker seine nahezu staubfreie Wohnung eigentlich nicht verlassen sollte, macht ihn nicht gerade zum Idealkandidaten für einen Detektiv - der sich doch in allen Milieus, also auch den staubigsten - bewegen können sollte. Wie Bartzsch also in den Gerlachs "Allergiker"-Krimis damit fertig wird, macht einen Großteil des Humors der Romane aus. Dass Gerlach darüber hinaus auch einer der besten Beobachter und Analytiker von Alltagsgeschehen ist, gibt seinen Romanen noch einen ganz besonderen Reiz.

Und wie überall komische Situationen entstehen, wenn Menschen mit ihren Stärken und Schwächen aufeinandertreffen, wenn sie ihre Interessen ausgleichen wollen oder einfach mit einander umgehen wollen (oder müssen), entsteht auch in der ganz normalen Straßenkriminalität Komik.

Ja, Verbrechen kann auch komisch sind, aber nicht jedes Verbrechen ist es auch. Der Axtmörder, der serienkillend den einschlägigen Profilern und Cops die Arbeitsgrundlage liefert, ist nicht zum Lachen. Die Bzeiehungsdramen im Kleinbürgermilieu, bei denen Lebenslügen und emotionale Konflikte auf- und abgearbeitet werden, sind es auch nicht. Komisch ist das Verbrechen meist in seiner Kleinform, die sich nicht gegen Leib und Leben, sondern gegen Geld und Gut des Mitmenschen richtet. Komisch sind meist Gauner, über deren Aktivitäten und Erfolge - meist allerdings auch Misserfolge - man sich amüsieren kann: der Einbrecher, der im Schnapsladen gleich zur Verkostung schreitet und von der Polizei sturztrunken abgeführt werden kann. Der Trickbetrüger, der in die Fänge einer resoluten Seniorin gerät, oder der schusselige Passfälscher, der den 34. Januar als Geburtsdatum in seine neuen Papiere einträgt und sich wundert, warum er bei der nächsten Kontrolle verhaftet wird - die Geschichten vom Versagen des Verbrechens goutieren wir nicht nur gern in den bunten Meldungen der Tagespresse, sondern auch im Kriminalroman.

Wobei die wirklich guten Versager im Krimi auch immer wirkliche Menschen - quasi Ganoven wie Du und Ich- sein sollten. Wie etwa der biedere deutsche Angestellte Heinz Borbet, der in "Beule oder Wie man einen Tresor knackt" von Klugmann und Mathews über Wochen versucht, einen Safe zu knacken, den ihm die kriminelle Fantasie der Autoren in den Keller gestellt haben.
"Pecunia non olet!", sagte der Polizist
"Wie bitte?", fragte Borbet.
"Sie sind Lateiner?", fragte der Polizist.
Borbet war verwirrt.
"Ich stamme aus Niedersachsen!"

Oder aber der zweifelhafte Meisterganove Dortmunder, der in einigen Romanen des Amerikaners Donald E. Westlake demonstriert, in welchem Missverhältnis der Aufwand an krimineller Energie mitunter zu ihrem Ergebnis stehen kann. Oder als brillantes kleines Kabinettsstückchen die Chronik der kriminellen Karriere zweier Schnapsladenräuber, die Elmore Leonard in "Dies ist ein Überfall" nachzeichnet - in Dialogwitz und Slapstick auch gekonnt nachgeahmt von Peter Meisenberg in "Schmahl".

Komik ist aber nicht nur dort unten möglich, down to earth, auf der Straße, in der Welt, wie wir sie kennen und manchmal hassen, sondern auch in der Oberliga, dem fast rein literarischen Spiel mit Sprache und Versatzstücken - in der Krimi-Parodie.
Für die Experten ist nichts komischer als einen richtigen Krimi zu übertreiben und seine Standardfiguren -situationen und .-plots durch den Kakao zu ziehen. Das funktioniert um so besser, je weiter die Formeln und die Gesetze des Gegenstand der Parodie allgemein bekannt und verbreitet sind.

Wenn Superdetektiv Chico Pipa in den "Super-Thrillern" des Italieners Carlo Manzoni mit seinem whisky-saufenden Hund Gregg auf Ermittlungstour geht, die einen Mike Hammer (von Mickey Spillane) vor Neid erblassen lässt, dann ist das für die einen - die kaum etwas von Chandler, Hammett oder Hammer kennen - höchstens überspannter italienischer slapstick, für die anderen - die Kenner - ist es augenzwinkernder Krimi-Humor, der alle hardboiled-novels mit ihre toughen Helden auf italienisch-chaotische Normalmaß herunterstutzt und das alles it einer gehörigen Portion Absurdität würzt.

Es geht freilich auch etwas subtiler, weniger laut, also, wie mancher jetzt sagen wird: harmloser, etwas menschlicher, etwas näher an der Wirklichkeit als die reinen Insider-Jokes.
Subtil wie etwa wiederum bei Gunter Gerlach, der in "Falsche Flensburger" zum ersten Mal Jakob Vogelsang auftreten ließ, einen Gelegenheitseinbrecher und Schriftsteller, dessen aktuelles Abenteuer "Irgendwo in Hamburg" ihn wieder in seine Heimatstadt zurückgeführt hat, und zwar ins gefährlichste aller sozialen Biotope - ein Mietshaus. Mit Vogelsang hat der Autor eine perfekte Verschränkung von Krimi-Muster und absurdem Welttheater gefunden - der kriminelle Schriftsteller, beziehungsweise der schriftstellernde Kriminelle, der sich seinen Weg - und seine Geschichte - zwischen diesen beiden Polen suchen muss: der Welt und der Literatur.

ENDE

Literatur:
Gerlach, Gunter Die Allergie Trilogie:
"Kortison", "Katzenhaar und Blütenstaub", "Neurodemitis"
Rotbuch Verlag

Gerlach, Gunter Die Jakob Vogelsang-Romane
"Falsche Flensburger","Irgendwo in Hamburg"
Rotbuch Verlag

Klugmann/Mathews
"Beule"
Rowohlt Verlag

Leonard, Elmore
"Dies ist ein Überfall"
Rowohlt Verlag
Neuausagbe unter dem Titel "Beute"
Heyne Verlag