25.11.07

Mark Billingham: Die Blumen des Todes

Schauplatz London, der Mutter aller Schauplätze für klassische britische Polizeikrimis. Inspektor Tom Thorne wird zu einem Tatort gerufen, der ihn schockiert - eine Szene in einem Hotelzimmer, die an Grausamkeit kaum zu ertragen ist. Und schon bald stellt sich heraus, dass es sich hier nur um den ersten einer Serie von Morden handelt, denen jeweils kürzlich entlassene Sträflinge zum Opfer fallen.
Ein Krimi, der nicht nur die Ermittlungsarbeit (legwork) der Polizei in den Mittelpunkt stellt, sondern auch die Gruppendynamik innerhalb des Ermittlerteams. Denn nicht jede Polizeieinheit tritt immer geschlossen zum Kampf gegen des Vebrrcehen an, sondern besteht aus einer Vielzahl von Charakteren, die alle Einzelinteressen verfolgen.

Mark Billingham
Die Blumen des Todes
Goldmann 45730

15.11.07

Mörder im Hotel

Mörder im Hotel
Auf Reisen mit Agatha Christie: Das gepflegte Verbrechen zum Fünf-Uhr-Tee
Von Reinhard Jahn

"Ich begreife nicht, wie so etwas in einem anständigen Hotel geschehen kann."
Agatha Christie: Der Todeswirbel (Taken at the Flood)

Inspektor McDowell von der Polizeistation Yorkshire hatte sich mit seinem Begeleiter unauffällig zum Hydropathic Hotel begeben, einem der größten und elegantesten Hotels in Harrogate.
Jetzt, gegen Abend des 14. Dezember 1926, wartet McDowells Begleiter in der Hotelhalle auf einen bestimmten Gast - den Gast aus Zimmer Nummer 5, eine Dame, die vor etwa zehn Tagen hier abgestiegen ist. Eine Dame - laut Anmeldung Miss Theresa Neele - die während ihres Aufenthaltes im Hydropathic nichts aufregenderes getan hat, als im Salon beim Tee Kreuzworträtsel zu lösen.

An der Rezeption liegt eine Zeitung mit einem groß aufgemachten Bericht über eine Frau, von der Ehemann, Polizei und vor allem vor allem die Boulevardpresse gern wissen möchte, wo sie sich aufhält: Agatha Mary Clarissa Christie, geborene Miller, Schriftstellerin, populäre Krimi-Autorin, ist seit zehn Tagen verschwunden. Seitdem tappt die Polizei im Dunkeln und die Presse brennt ein Schlagzeilenfeuerwerk ab.
Vor sechs Jahren hat Christie mit "Das fehlendes Glied in der Kette" (The Mysterious Affair at Styles, 1920) ihre Leser für sich und ihren kleinen belgischen Detektiv gewonnen, und erst vor kurzem ist sechster Roman erschienen - "Alibi" (The Murder of Roger Akroyd, 1926) - ein intelligent aufgebautes Verwirrspiel um zwei Morde in dem Dörfchen King's Abbot, mit dessen unkonventioneller Auflösung sich die Christie als eine Meisterin des geschickten plots ausgewiesen hat.

"Where is Mrs Christie?", fragt jetzt die Daily Mail und lobt einhundert Pfund Belohnung für Informationen über den Aufenthaltsort von Agatha aus. Kein Wunder, dass man hinter ihrem Verschwinden nicht mehr und nicht weniger als ein echtes Agatha-Christie-Plot vermutet - ja, vielleicht sogar ein Mord. Der Polizei ist nicht verborgen geblieben, dass es in Mrs Christies Ehe mit dem Weltkriegsflieger Archibald Christie kriselt.
Die Dame aus Nummer 5 kommt aus dem Fahrstuhl. Archibald Christie geht auf sie zu - ja, das ist seine Frau, das ist Agatha. "Die allerdings schien in ihm nur einen entfernten Bekannten zu sehen", so die Hotelverwalterin Mrs Taylor, "dessen Person sie nicht genau einordnen konnte, der ihr allerdings vertraut genug war, daß sie ihm erlaubte, sie in den Speisesaal zu begleiten."

Es ist niemals genau ermittelt worden, warum die Meisterin des gemütlich-komplizierten Detektivromans damals abgetaucht ist. Aber egal, ob sie nun ein Verbrechen oder einen Selbstmord plante, einen plötzlichen Gedächtnisverlust erlitten hatte, oder sich einfach an Archibald rächen wollte - niemand wunderte sich damals wie heute darüber, dass Agatha in einem Hotel der obersten Klasse unterschlüpfte. Weil es einfach selbstverständlich war, dass eine Dame von ihrem Stand und ihrer Popularität einfach in eins der besten Häuser gehörte - ob mit Gedächtnis oder ohne. Auch wer heute für etwa 200 Euro pro Nacht in einem der 136 Zimmer des inzwischen zum Old Swan gewordenen Hydropathic Hotel in Harrogate logiert, wer die Swan Lounge, das Library Restaurant und den Wedgwood Room dort erlebt, spürt sofort die glanzvolle Geschichte des fast 200 Jahre alten Hauses und ahnt noch den Luxus, mit in den Zwanzigern die Gäste umgeben wurden.
Das Hotel als Bühne des Gesellschaftslebens zieht sich wie eine Indizienspur durch das Leben und das Werk der erfolgreichsten Krimi-Autorin aller Zeiten. Agatha Christie ist 20, als sie mit ihrer Mutter auf der SS Heliopolis nach Ägypten reist und in Kairo im Gezirah Palace Hotel (heute: Cairo Marriott) absteigt, um dort kostengünstig in die Gesellschaft eingeführt zu werden.
Ein paar Jahre nach diesem Debüt in Kairo, als Agatha Christie ihre Träume von einer Karriere als Opernsängerin begraben hat, als Krankenschwester arbeitet und sich gleichzeitig an ihrem ersten Kriminalroman versucht, wird sie sich zur Beförderung der kreativen Konzentration ins Hotel Moorland in Hay Tor zurückziehen, um sie Arbeit an der "Mysterious Affair at Styles" zu beenden. "Es war ein großes, trübseliges Hotel mit einer Unzahl von Zimmern und schwach besetzt. Eifrig schrieb ich den ganzen Vormittag, bis mir die Hand wehtat." Hier in Dartmoor bekam der kleine, skurrile Hercule Poirot seinen letzten Schliff.
Nach ihrem Abstecher ins Harrogate Hydropathic im Jahr 1926, nach ihrer Scheidung von Archibald und mit ihrer neuen Bekanntschaft - ihrem späteren Ehemann Max Mallowan, dem sie auf einer Reise zu archäologischen Grabungen im Irak begegnet, entwickelt sich Agatha Christie in den Jahrzehnten zwischen den Kriegen zu einer Reisenden, die mit der größten Selbstverständlichkeit den Komfort gut geführter Grand-Hotels wie des Tigris in Bagdad oder des Pera Palas in Istanbul nutzt.
Die Erfahrungen daraus verdichtet die "Queen of Mystery" immer wieder zum Schauplatz ihrer Detektivgeschichten.

Genau wie in ihrem wirklichen Leben sind die Hotel ihrer Krimis in der Regel die ersten, die besten Häuser am Platz: das Old Cataract Hotel in Assuan in dessen Garten sich vor Hercule Poirots Augen und Ohren die Intrigen zum "Tod auf dem Nil" entwickeln, das fiktive Bertrams in London, in dem Christie Mitte der sechziger Jahre noch einmal den ganzen Charme eines viktorianisches Grand-Hotels aufleben lässt.

Die Hotels in den Christie-Krimis sind nichts anderes als eine nur von einem Hauch der Moderne angewehte Variante jenes Schauplatzes der zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer ganzen Untergattung des britischen Detektivroman seinen Namen verliehen hat - das Landhauses. Jedes Ritz oder Grand-Hotel in Britannien, Frankreich, in Ägypten, dem Irak oder der Karibik, das Agatha Christie mit ihrem Stammpersonal aus knarrigen Militärs, ältlichen Adeligen, einer Vielzahl von Ladys und Damen der besseren Gesellschaft, mit unauffälligen Geschäftsleuten und Anwälten und dem obligatorischen kauzigen Geistlichen bevölkert ist nur ein weiterer Außenposten des zerfallenden Empires: Das Hotel als globalisiertes Landhaus.

Bis heute schmücken sich außer dem ehemaligen Hydropathic in Harrogate eine ganze Reihe von Hotels mit der werbeträchtigen Ehre, "die Christie" beherbergt zu haben. Ein Juwel in Christies Hotelsammlung, die sie sich bei ihren Touren zu den archäologischen Grabungsstätten ihres zweiten Mannes Max Mallowan erreiste, ist dabei das Pera Palas Hotel in Istanbul, wo sie mit der Arbeit am "Mord im Orientexpress" (Murder on the Orient Express, 1934) begann.
Elf Jahre vor ihrem Tod schließlich, als sie mit Ihrem Namen längst weltweit zum Synomyn für "Krimi" geworden - kreiert sie das Christie-Hotel par excellence: Das Bertrams. Es ist nach nach ihrem Londoner Lieblingshotel gestaltet, dem heute noch existierenden Brown's Hotel in Mayfair.
So wie Agatha ihr Bertram's schildert, meint man, müsste heutzutage ein lupenreines Agatha-Christie-Erlebnis-Hotel aussehen: "Draußen an der Treppe, vor den großen Schwingtüren, stand eine Gestalt, die man, auf den ersten Blick wenigstens, für einen Feldmarschall halten konnte, denn Goldtressen und Ordensbänder schmückten die breite, männliche Brust."
Im Innern hatte der Ankömmling das fast beängstigende Gefühl, in eine versunkene Welt versetzt zu sein: "Die Zeit war stehengeblieben. Der Gast befand sich wieder im England Edwards VII.", heißt es in dem gleichnamigen Krimi Bertrams Hotel.
In dem klug ausgetüftelten Retro-Ambiente des Bertram's findet man sich in der Hotelhalle mit den beiden gemütlichen Kohlenfeuern, "flankiert von großen gefüllten Kohleeimern aus Messing, die genauso glänzten wie zu Edwards Zeiten" zum Five-O-Clock-Tea ein, den Christie mit sanfter Ironie auch gleich als Einstieg in die Geschichte zelebriert.
Selbstverständlich schmückt sich auch das heutige Brown's Hotel mit seinem "Afternoon Tea" und seinem berühmten Gast aus der Krimi-Branche - freilich erst an zweiter Stelle hinter Nobelpreisträger Rudyard Kipling, der im Brown's sein "Dschungelbuch" zu Ende schrieb.
"Es ist eine Frage der Atmosphäre", zwinkert Agatha Christie dem Leser mit den Worten von Hoteldirektor Humfries zu: "Das Hotel muss antiquiert wirken, aber gleichzeitig den modernen Komfort besitzen."
Aber letztlich ist auch das Bertram's nur ein weiteres Hotel in der Kette von Christies Hotelszenerien, die ihrem Millionenpublikum ihre ebenso phantasievoll ausgetüftelten Mordgeschichten auch heute noch nahebringen. Denn das Hotel ist ein universeller Ort, eine Kulisse, die sich dem Leser in der ganzen Welt auf Anhieb bekannt vorkommt.
"So viele Hotels sind ja verschwunden, entweder wurden sie im Krieg ausgebombt oder einfach geschlossen", klagt Miss Marples Nichte, ehe sie für ihre Tante ein Zimmer im Bertrams reserviert. Doch die Hotels die Agatha Christie in ihren Romanen geschaffen hat, werden bleiben.
ENDE
-------
Brown's Hotel: Vorbild für "Bertrams Hotel" (1965)
Albemarle Street, Mayfair, London W1S 4BP

Burgh Island Hotel: Vorbild für "Zehn kleine Negerlein" und "Das Böse unter der Sonne"
Burgh Island, Devon, TQ7 4BG
Old Cataract Assuan. Teilweise Schauplatz von "Tod auf dem Nil"
Abtal El Tahrir Street, Assuan, Egypt
Pera Palas: Arbeit an "Mord im Orient Express", mit einem "Agatha Christie Zimmer"
Mesrutiyet CD. Tapebasi 98-100, Istanbul 80050
Grand Hotel, Torquay: Hier verbrachte Agatha Christie ihre Hochzeitsnacht
The Grand Hotel Seafront, Torquay, Devon TQ26NT
The Old Swan Hotel: das ehemalige "Harrogate Hydropathic"
The Old Swan Hotel, Swan Rd, Harrogate, HG1 2SR




2.11.07

Los, fang an! - Der richtig spannende Einstieg

Von H. P. Karr

Fang niemals mit dem Wetter an, sagt Elmore Leonard in seinen Zehn Regeln zum Schreiben einer guten Geschichte. Denn: Wetter schafft nur Atmosphäre und erzählt keine Geschichte. Wetter ist langweilig. Wie also anfangen? Wie nimmt man den Leser an den Haken? Mit einer Person. Oder besser: mit zwei Personen. Und am besten: mit einer Beziehung zwischen zwei Personen.

  • Ich saß auf meinem Bett in meiner Wohnung in Culver City, sah mir bei abgeschaltetem Ton das Spiel der Lakers an und versuchte dabei, die Vokabeln für meinen Japanisch-Kurs zu büffeln.

So beginnt nach einigen Präliminarien der Erzähltext von Nippon Connection von Michael Crichton, vordergründig ein Thriller über einen Mord in der Niederlassung eines japanischen Konzerns in Los Angeles, hintergründig ein Roman über den japanisch-amerikanischen Wirtschaftskrieg zu Beginn der neunziger Jahre. Ein in seiner ganzen Schlichtheit überzeugender Anfang - nachdem wir in einem vorgeschalteten "Offiziellen Dokument" gelesen haben, dass alles, was jetzt folgt, die "Abschrift interner Aufzeichnungen" des Los Angeles Police Department ist ("Vertraulich zu behandeln"). Es geht also offenbar um die Aussage unseres Helden über seine Rolle bei was auch immer, bei einer Nachermittlung, einer Untersuchung, also garantiert um etwas, das man verdammt ernst nehmen und bei dem man nicht lügen sollte.

Kaum zwei Seiten gelesen und schon am Haken: interne Aufzeichnungen, vertraulich, Los Angeles Police Department - das ist so, als ob uns jemand in eine Ecke zieht und uns zuflüstert: "Du, ich erzähle dir jetzt mal was, das ist der absolute Hammer, aber kein Wort weitersagen!"

Vor dem ersten Satz des Erzähltextes stehen noch zwei weitere kleine Dokumente, mit denen die Rahmenhandlung präzisiert und dramatisiert wird. Offenbar geht es um eine Mordermittlung, die noch nicht abgeschlossen ist, unser Held heißt Smith, Lieutenant Pete Smith, und jetzt erst, endlich, lernen wir ihn genauer kennen, mit seinen eigenen Worten:

  • Ich saß auf meinem Bett in meiner Wohnung in Culver City, sah mir bei abgeschaltetem Ton das Spiel der Lakers an und versuchte dabei, die Vokabeln für meinen Japanisch-Kurs zu büffeln.

Pete Smith erzählt gradlinig und geradeheraus, denn wir lesen ja, wie der Rahmen aus Dokumenten uns suggeriert, ein Aussageprotokoll und wundern uns deshalb kein bisschen darüber, dass er sich an die bloßen Fakten hält und kein Wort über das Wetter an diesem Abend verliert, an dem er seine japanischen Vokabeln lernt. Warum, zum Teufel, lernt er Japanisch?
Gleich im ersten Nebensatz erwischt uns ein weiterer Angelhaken, und der bleibt hängen, während der Autor einen kleinen Umweg macht: Pete Smith erzählt von sich - er ist geschieden, hat eine Tochter und arbeitet erst seit kurzem im Sonderdezernat des LAPD.

Und wieder etwas, das neugierig macht: Was für ein Sonderdezernat? Ein besonderes Sonderdezernat, erfahren wir umgehend; hier kümmert man sich um die Fälle, in denen ausländische Diplomaten oder Persönlichkeiten Probleme mit der Polizei haben.
Und während unser Held uns mit ein paar Anekdoten aus seiner Arbeit beim Sonderdezernat unterhält, kommen wir Leser ganz nebenbei von selbst darauf, warum Pete Japanisch lernt: Es gehört zu seinem Job. Kaum viereinhalb Seiten gelesen und schon haben wir unsere Hauptfigur kennen gelernt, sind mitten in der Geschichte und warten darauf, was als Nächstes passiert -
  • Dann rief Tom Graham an.
    "Es geht um die verdammten Japsen", sagte er.
Tom Graham, lernen wir daraus, ist schlimmstenfalls ein Rassist oder bestenfalls ein Rüpel - mit diesem prägnanten Dialogsatz ist die Figur blitzschnell charakterisiert. Graham beordert unseren Helden zu seinem Einsatz - in der neu erbauten Zentrale eines japanischen Konzerns ist eine Frau tot aufgefunden worden.
Alles in allem ein Klassiker unter den Standardsituationen eines Krimis, deshalb tut Michael Crichton auch gut daran, die Szene nicht weiter auszumalen, sondern unsere Neugier sofort weiter zu kitzeln. Unser Held bekommt nämlich einen weiteren Anruf - von seinem Vorgesetzten:
  • "Hol Connor ab und fahr mit ihm zum Tatort!"
    "Wen?"
    "John Connor. Der Name dürfte dir doch wohl bekannt sein."

Wieder ein Haken, der da ausgeworfen wird. Wer ist dieser Connor? Woher kennt unser Held ihn? Die Information wird zügig nachgeliefert - und macht uns nur noch neugieriger:
Connor war vor einigen Jahren ausgeschieden, aber die Kontakt-Officers, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, stimmten alle darin überein, daß er der beste war. Er war berühmt für seine Schnelligkeit; manchmal hatte er einen Fall innerhalb von Stunden gelöst. Er stand im Ruf, ein geschickter Detective und ein hervorragender Vernehmer zu sein, der aus Zeugen Informationen herausholte, die sonst keiner bekam.
Das klingt verdächtig nach der Art von Vorschusslorbeer, mit der schon Doktor Watson hundert Jahre zuvor seinen Meister Sherlock Holmes bekränzt hat - und wir sehen im ersten Moment gar nicht, wie geschickt uns der Autor hier von einer Standardsituation in die nächste führt, um damit der ganzen Geschichte eine neue Wendung zu geben: Lieutenant Pete Smith scheint nicht der einzige Held unserer Geschichte zu sein, sondern "nur" der Bote, der uns von den Taten eines großen Meisterermittlers erzählen wird. Und schon brennen wir darauf, diesen John Connor kennen zu lernen:
  • Er war erstaunlich groß, ungefähr einen Meter neunzig, und er trug einen yukuta, einen leichten japanischen Hausmantel, aus blauer Baumwolle. Ich schätzte den Mann auf fünfundfünfzig. Er war breitschultrig, hatte schütteres Haar, einen gepflegten Schnurrbart, harte Gesichtszüge und einen durchdringenden Blick. Seine Stimme war tief, er strahlte große Ruhe aus.
Wer so beschrieben wird, kann eigentlich nur von Sean Connery gespielt werden, und der war dann in der Tat in der Verfilmung ("Die Wiege der Sonne", Regie Philip Kaufman) jener mythische Connor, gegen den Wesley Snipes in der Rolle des Lieutenant Smith sich nur mit Mühe behauptete. Und ich meine mich zu erinnern, dass die Szene, die im Roman auf Connors Beschreibung folgt, im Film, ganz den Gesetzen des Mediums folgend, wesentlich länger ausgespielt wird als im Buch: weil wir hier die erste Begegnung der beiden Hauptfiguren erleben, die Begegnung, die ihre Beziehung zueinander konstituiert. Denn das und nicht so sehr der Mord in der japanischen Firmenzentrale interessiert uns als Leser wirklich: Wie gehen diese beiden miteinander um, was werden wir noch über sie erfahren und wie wird sich ihre Beziehung entwickeln? Zunächst sind die Rollen klar verteilt - einer fragt, der andere antwortet:

  • "Wie lange sind Sie schon Kontakt-Officer?"
    "Seit sechs Monaten."
    "Sprechen Sie Japanisch?"
    "Ein bißchen. Ich lerne es gerade."

Erst sechseinhalb Seiten gelesen und schon sind wir fest bei der Sache, weil Michael Crichton für uns Pete Smith als Identifikationsfigur aufgebaut hat, den Schüler, dem wir uns näher fühlen können als dem charismatischen Meister und Lehrer Connor. Der nämlich erweckt bei Smith - und in uns - schon mit seinen ersten Fragen den düsteren Verdacht, dass bei diesem Fall offenbar nichts gewöhnlich, nichts normal ist. Aber das ist nur ein weiterer kleiner Haken für unsere Neugier, beiläufig und trotzdem zielsicher ausgeworfen. Denn wir sind noch nicht fertig mit der mythischen Überhöhung der Meister-Figur, die Michael Crichton in einem Dialog auf dem Weg zum Tatort konsequent vorantreibt, indem Connor seinem Schüler Anweisungen für das Auftreten gegenüber den Japanern dort gibt:
  • "Mich stellen Sie gar nicht erst vor. Sie erwähnen mich überhaupt nicht. Sie dürfen nicht mal in meine Richtung sehen."
    "Okay."
    "Ich bin ein Niemand. Sie allein haben die Verantwortung."
    "In Ordnung."
    "Es empfiehlt sich, so formell wie möglich aufzutreten. Stehen Sie gerade, und lassen Sie Ihre Anzugjacke immer zugeknöpft! Wenn man sich vor Ihnen verbeugt, verbeugen Sie sich auch, und zwar genauso tief und genauso lange. Ihre Verbeugung muß immer genau die gleiche sein."
    "Okay", sagte ich. (...)
Kaum achteinhalb Seiten gelesen und schon hängen wir vollends am Haken. Michael Crichton hat uns durch die geschickte Rahmenkonstruktion neugierig gemacht, er hat uns die Figur Pete Smith mit ein paar kräftigen Strichen näher gebracht und ihn mit dem wahren Helden der Geschichte konfrontiert. Jetzt wollen wir wissen, wie die beiden miteinander und mit dem Problem umgehen, das sie lösen müssen. Dabei ist vollkommen egal, ob es um die tote Frau in der japanischen Konzernzentrale geht oder um eine gefährliche Mission im Amazons-Dschungel. Auch eine Story aus der Genforschung, in der ein komplexes Problem gelöst werden muss, kann nach diesem Muster angegangen werden.

Versuchen Sie es selbst:
Entwerfen Sie den Anfang einer Story über einen jungen Techniker einer Ölgesellschaft, die auf Bohrplattformen in der Nordsee öl fördert. Machen Sie es wie Michael Crichton: Gestalten Sie einen Rahmen ("Untersuchungsbericht über die Vorfälle auf ..."), führen Sie den Helden kurz ein und lassen Sie ihn einen Anruf bekommen ("He, Joe, es geht um diese Scheiß-Plattform Delta!"). Dann bringen Sie Ihren Helden in Kontakt zu seinem Meister ("Fliegen Sie mit Connor raus! Sie kennen Connor?"). Sie werden sehen, was für ein toller Anfang Ihnen damit gelingt. Auf ganzen achteinhalb Seiten. Und ganz ohne Wetter.

PS: Die Zehn Regeln von Elmore Leonard findet man (in englischer Sprache) auf seiner Homepage

Der Autor: H. P. Karr lebt im Ruhrgebiet und schrieb bisher rund ein Dutzend Romane, knapp 2000 Storys und viele Hörspiele. Er gehört zu den Mitbegründern der Krimiautorengruppe DAS SYNDIKAT und des Bochumer Krimi-Archivs, das alljährlich die Vergabe des DEUTSCHEN KRIMI PREISES organisiert.

Michael Crichton: Nippon Connection
Roman. Droemer Knaur, München 1992
430 Seiten, ISBN 978-3-426-19315-0
Deutsch von Michaela Grabinger
(Der Titel ist vergriffen; gebrauchte Exemplare gibt es u. a. bei Amazon.)