2.11.07

Los, fang an! - Der richtig spannende Einstieg

Von H. P. Karr

Fang niemals mit dem Wetter an, sagt Elmore Leonard in seinen Zehn Regeln zum Schreiben einer guten Geschichte. Denn: Wetter schafft nur Atmosphäre und erzählt keine Geschichte. Wetter ist langweilig. Wie also anfangen? Wie nimmt man den Leser an den Haken? Mit einer Person. Oder besser: mit zwei Personen. Und am besten: mit einer Beziehung zwischen zwei Personen.

  • Ich saß auf meinem Bett in meiner Wohnung in Culver City, sah mir bei abgeschaltetem Ton das Spiel der Lakers an und versuchte dabei, die Vokabeln für meinen Japanisch-Kurs zu büffeln.

So beginnt nach einigen Präliminarien der Erzähltext von Nippon Connection von Michael Crichton, vordergründig ein Thriller über einen Mord in der Niederlassung eines japanischen Konzerns in Los Angeles, hintergründig ein Roman über den japanisch-amerikanischen Wirtschaftskrieg zu Beginn der neunziger Jahre. Ein in seiner ganzen Schlichtheit überzeugender Anfang - nachdem wir in einem vorgeschalteten "Offiziellen Dokument" gelesen haben, dass alles, was jetzt folgt, die "Abschrift interner Aufzeichnungen" des Los Angeles Police Department ist ("Vertraulich zu behandeln"). Es geht also offenbar um die Aussage unseres Helden über seine Rolle bei was auch immer, bei einer Nachermittlung, einer Untersuchung, also garantiert um etwas, das man verdammt ernst nehmen und bei dem man nicht lügen sollte.

Kaum zwei Seiten gelesen und schon am Haken: interne Aufzeichnungen, vertraulich, Los Angeles Police Department - das ist so, als ob uns jemand in eine Ecke zieht und uns zuflüstert: "Du, ich erzähle dir jetzt mal was, das ist der absolute Hammer, aber kein Wort weitersagen!"

Vor dem ersten Satz des Erzähltextes stehen noch zwei weitere kleine Dokumente, mit denen die Rahmenhandlung präzisiert und dramatisiert wird. Offenbar geht es um eine Mordermittlung, die noch nicht abgeschlossen ist, unser Held heißt Smith, Lieutenant Pete Smith, und jetzt erst, endlich, lernen wir ihn genauer kennen, mit seinen eigenen Worten:

  • Ich saß auf meinem Bett in meiner Wohnung in Culver City, sah mir bei abgeschaltetem Ton das Spiel der Lakers an und versuchte dabei, die Vokabeln für meinen Japanisch-Kurs zu büffeln.

Pete Smith erzählt gradlinig und geradeheraus, denn wir lesen ja, wie der Rahmen aus Dokumenten uns suggeriert, ein Aussageprotokoll und wundern uns deshalb kein bisschen darüber, dass er sich an die bloßen Fakten hält und kein Wort über das Wetter an diesem Abend verliert, an dem er seine japanischen Vokabeln lernt. Warum, zum Teufel, lernt er Japanisch?
Gleich im ersten Nebensatz erwischt uns ein weiterer Angelhaken, und der bleibt hängen, während der Autor einen kleinen Umweg macht: Pete Smith erzählt von sich - er ist geschieden, hat eine Tochter und arbeitet erst seit kurzem im Sonderdezernat des LAPD.

Und wieder etwas, das neugierig macht: Was für ein Sonderdezernat? Ein besonderes Sonderdezernat, erfahren wir umgehend; hier kümmert man sich um die Fälle, in denen ausländische Diplomaten oder Persönlichkeiten Probleme mit der Polizei haben.
Und während unser Held uns mit ein paar Anekdoten aus seiner Arbeit beim Sonderdezernat unterhält, kommen wir Leser ganz nebenbei von selbst darauf, warum Pete Japanisch lernt: Es gehört zu seinem Job. Kaum viereinhalb Seiten gelesen und schon haben wir unsere Hauptfigur kennen gelernt, sind mitten in der Geschichte und warten darauf, was als Nächstes passiert -
  • Dann rief Tom Graham an.
    "Es geht um die verdammten Japsen", sagte er.
Tom Graham, lernen wir daraus, ist schlimmstenfalls ein Rassist oder bestenfalls ein Rüpel - mit diesem prägnanten Dialogsatz ist die Figur blitzschnell charakterisiert. Graham beordert unseren Helden zu seinem Einsatz - in der neu erbauten Zentrale eines japanischen Konzerns ist eine Frau tot aufgefunden worden.
Alles in allem ein Klassiker unter den Standardsituationen eines Krimis, deshalb tut Michael Crichton auch gut daran, die Szene nicht weiter auszumalen, sondern unsere Neugier sofort weiter zu kitzeln. Unser Held bekommt nämlich einen weiteren Anruf - von seinem Vorgesetzten:
  • "Hol Connor ab und fahr mit ihm zum Tatort!"
    "Wen?"
    "John Connor. Der Name dürfte dir doch wohl bekannt sein."

Wieder ein Haken, der da ausgeworfen wird. Wer ist dieser Connor? Woher kennt unser Held ihn? Die Information wird zügig nachgeliefert - und macht uns nur noch neugieriger:
Connor war vor einigen Jahren ausgeschieden, aber die Kontakt-Officers, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, stimmten alle darin überein, daß er der beste war. Er war berühmt für seine Schnelligkeit; manchmal hatte er einen Fall innerhalb von Stunden gelöst. Er stand im Ruf, ein geschickter Detective und ein hervorragender Vernehmer zu sein, der aus Zeugen Informationen herausholte, die sonst keiner bekam.
Das klingt verdächtig nach der Art von Vorschusslorbeer, mit der schon Doktor Watson hundert Jahre zuvor seinen Meister Sherlock Holmes bekränzt hat - und wir sehen im ersten Moment gar nicht, wie geschickt uns der Autor hier von einer Standardsituation in die nächste führt, um damit der ganzen Geschichte eine neue Wendung zu geben: Lieutenant Pete Smith scheint nicht der einzige Held unserer Geschichte zu sein, sondern "nur" der Bote, der uns von den Taten eines großen Meisterermittlers erzählen wird. Und schon brennen wir darauf, diesen John Connor kennen zu lernen:
  • Er war erstaunlich groß, ungefähr einen Meter neunzig, und er trug einen yukuta, einen leichten japanischen Hausmantel, aus blauer Baumwolle. Ich schätzte den Mann auf fünfundfünfzig. Er war breitschultrig, hatte schütteres Haar, einen gepflegten Schnurrbart, harte Gesichtszüge und einen durchdringenden Blick. Seine Stimme war tief, er strahlte große Ruhe aus.
Wer so beschrieben wird, kann eigentlich nur von Sean Connery gespielt werden, und der war dann in der Tat in der Verfilmung ("Die Wiege der Sonne", Regie Philip Kaufman) jener mythische Connor, gegen den Wesley Snipes in der Rolle des Lieutenant Smith sich nur mit Mühe behauptete. Und ich meine mich zu erinnern, dass die Szene, die im Roman auf Connors Beschreibung folgt, im Film, ganz den Gesetzen des Mediums folgend, wesentlich länger ausgespielt wird als im Buch: weil wir hier die erste Begegnung der beiden Hauptfiguren erleben, die Begegnung, die ihre Beziehung zueinander konstituiert. Denn das und nicht so sehr der Mord in der japanischen Firmenzentrale interessiert uns als Leser wirklich: Wie gehen diese beiden miteinander um, was werden wir noch über sie erfahren und wie wird sich ihre Beziehung entwickeln? Zunächst sind die Rollen klar verteilt - einer fragt, der andere antwortet:

  • "Wie lange sind Sie schon Kontakt-Officer?"
    "Seit sechs Monaten."
    "Sprechen Sie Japanisch?"
    "Ein bißchen. Ich lerne es gerade."

Erst sechseinhalb Seiten gelesen und schon sind wir fest bei der Sache, weil Michael Crichton für uns Pete Smith als Identifikationsfigur aufgebaut hat, den Schüler, dem wir uns näher fühlen können als dem charismatischen Meister und Lehrer Connor. Der nämlich erweckt bei Smith - und in uns - schon mit seinen ersten Fragen den düsteren Verdacht, dass bei diesem Fall offenbar nichts gewöhnlich, nichts normal ist. Aber das ist nur ein weiterer kleiner Haken für unsere Neugier, beiläufig und trotzdem zielsicher ausgeworfen. Denn wir sind noch nicht fertig mit der mythischen Überhöhung der Meister-Figur, die Michael Crichton in einem Dialog auf dem Weg zum Tatort konsequent vorantreibt, indem Connor seinem Schüler Anweisungen für das Auftreten gegenüber den Japanern dort gibt:
  • "Mich stellen Sie gar nicht erst vor. Sie erwähnen mich überhaupt nicht. Sie dürfen nicht mal in meine Richtung sehen."
    "Okay."
    "Ich bin ein Niemand. Sie allein haben die Verantwortung."
    "In Ordnung."
    "Es empfiehlt sich, so formell wie möglich aufzutreten. Stehen Sie gerade, und lassen Sie Ihre Anzugjacke immer zugeknöpft! Wenn man sich vor Ihnen verbeugt, verbeugen Sie sich auch, und zwar genauso tief und genauso lange. Ihre Verbeugung muß immer genau die gleiche sein."
    "Okay", sagte ich. (...)
Kaum achteinhalb Seiten gelesen und schon hängen wir vollends am Haken. Michael Crichton hat uns durch die geschickte Rahmenkonstruktion neugierig gemacht, er hat uns die Figur Pete Smith mit ein paar kräftigen Strichen näher gebracht und ihn mit dem wahren Helden der Geschichte konfrontiert. Jetzt wollen wir wissen, wie die beiden miteinander und mit dem Problem umgehen, das sie lösen müssen. Dabei ist vollkommen egal, ob es um die tote Frau in der japanischen Konzernzentrale geht oder um eine gefährliche Mission im Amazons-Dschungel. Auch eine Story aus der Genforschung, in der ein komplexes Problem gelöst werden muss, kann nach diesem Muster angegangen werden.

Versuchen Sie es selbst:
Entwerfen Sie den Anfang einer Story über einen jungen Techniker einer Ölgesellschaft, die auf Bohrplattformen in der Nordsee öl fördert. Machen Sie es wie Michael Crichton: Gestalten Sie einen Rahmen ("Untersuchungsbericht über die Vorfälle auf ..."), führen Sie den Helden kurz ein und lassen Sie ihn einen Anruf bekommen ("He, Joe, es geht um diese Scheiß-Plattform Delta!"). Dann bringen Sie Ihren Helden in Kontakt zu seinem Meister ("Fliegen Sie mit Connor raus! Sie kennen Connor?"). Sie werden sehen, was für ein toller Anfang Ihnen damit gelingt. Auf ganzen achteinhalb Seiten. Und ganz ohne Wetter.

PS: Die Zehn Regeln von Elmore Leonard findet man (in englischer Sprache) auf seiner Homepage

Der Autor: H. P. Karr lebt im Ruhrgebiet und schrieb bisher rund ein Dutzend Romane, knapp 2000 Storys und viele Hörspiele. Er gehört zu den Mitbegründern der Krimiautorengruppe DAS SYNDIKAT und des Bochumer Krimi-Archivs, das alljährlich die Vergabe des DEUTSCHEN KRIMI PREISES organisiert.

Michael Crichton: Nippon Connection
Roman. Droemer Knaur, München 1992
430 Seiten, ISBN 978-3-426-19315-0
Deutsch von Michaela Grabinger
(Der Titel ist vergriffen; gebrauchte Exemplare gibt es u. a. bei Amazon.)

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