Laudatio von Karr & Wehner anläßlich der Verleihung des GLAUSER an Hartmut Mechtel für "Der unsichtbare Zweite", gehalten am 31.5.1997 im Rahmen der Criminale in Jever.
Das Preis-Gericht
Als die Jury nach längeren Vorproben, nach Rezeptaustausch und Speisekartenvorschlägen zum Verkosten im Bonner Diplomatenviertel zusammentraf, empfing sie nicht nur die chefin de cuisine nebst Geschmacks-Berater, sondern auch das letzte, per Eilpost eingetroffene Schmankerl aus bergischer Literatenküche.
Zu spät! - wie wir erleichtert angesichts des Umfangs feststellten, das Verfallsdatum war - Glauser-Vorschrift sei Dank - überschritten. Die Bescherung lag geschichtet und gestapelt im Wohnzimmer; das Preis-Gericht lagerte heißhungrig drumherum. Wir aschenputtelten uns durch die Bücherberge und begannen zu sortieren - die guten nach vorne, die schlechten in das Archiv unseres Restaurantbesitzers.
Da gab es Unverdauliches mit eigenhändig gezeichneten Umschlägen und selbstfinanzierten Druckbögen. Einige versuchten es mit Etikettenschwindel und verheimlichten ihr Abpackdatum. Andere verkauften ihr altes Produkt unter neuem Namen zum zweiten oder dritten Mal als Frischware. Manches war fad und ohne Biß und nur für Großkantinen in postgeriatrischen Zentren geeignet, anderes so scharf, daß uns der Atem über all den gehäuften exotischen Gewürzen stockte und man schon ein Liebhaber ausgefallenster Eßgewohnheiten sein mußte, um sich den Magen nicht zu verderben. Vieles war gut gemeint, aber irgendwann während des Zubereitens mußte der Koch oder die Köchin ein anderes Rezept erwischt und seine Geschichte oder das Personal oder ganz einfach den Hunger der Leser vergessen haben. Das meiste war allerdings gute Hausmannskost mit bekannten Zutaten und bekanntem End-Ergebnis. Nicht zu beanstanden, aber auch nicht das, was unsere Feinschmeckerzungen kosten wollten. Schließlich stellten wir nach längerem Beraten eine Menueauswahl aus einem guten Dutzend Titeln zusammen.
Zur Auflockerung der Geschmacksnerven spülten wird mit Mineralwasser und Fachgesprächen über die Frühfeministinnen des deutschen Vormärzes, über amerikanische Vorabendserien, die demnächst im Nachmittagsprogramm unser Wissen über den längsten plot der Welt erweitern würden, alles Angebissene und Angeknabberte den natürlichen Weg alles Vergänglichen hinab.
Das was nicht ausgeschieden war, unterzogen wir dann einer verschärften Sektion, zerlegten es in seine Ingredienzen, analysierten Geschmacksverstärker und Zusatzstoffe, filterten und fällten, ließen Eingangssätze auf der Zunge zergehen, Schlußkapitel die Gaumensegel entlangstreichen. Schließlich stand der Speisezettel fest. Alles blickte zufrieden auf die fünf auserwählten Gerichte:
Doris Gercke: Tschingis Khans Tochter
Roger Graf: Zürich bei Nacht
Maria Gronau: Weiberwirtschaft
Klugmann/Mathews: Vorübergehend verstorben.
Hartmut Mechtel: Der unsichtbare Zweite
Nun galt es nur noch, die plat principale zu ermitteln. Ein Unterfangen, das sich trotz der konkurrierenden Köstlichkeiten leichter als befürchtet erwies. Zum Höhepunkt unseres Menues erwählten wir Hartmut Mechtel und sein Ost-West Zwillingsstück "Der unsichtbare Zweite". Es besaß alles, was zu einem guten Krimigericht dazugehört: überraschende Zutaten, nachvollziehbare Zubereitung, augenfälliges Dekor und befriedigender Gaumenkitzel, einen imposanten Wechsle von kräftig gewürzten und neutralisierenden Passagen, rasante Spannung und kein gutes Ende - sondern Hunger nach mehr, den Hartmut Mechtel übrigens wie jeder raffinierte Koch nicht nur provozierte, sondern auch gleich mit der Vorlage des zweiten Bandes "Das Netz der Schatten" zu beheben versprach.
Und bei alle, versierten Vorgehen und trotz aller augenzwinkernder Rezpepthinweise: es blieb genau das Quantum Unerklärliches, das Kräutlein Nies-mit-Lust aus dem Garten Wilhelm Hauffs, das Messerspitzlein lirum-larum, ohne das gutes Handwerk nicht zum Kunstwerk wird.
Wir waren und einig: hier bestand Suchtgefahr, und der wollten wir uns als gute Gourmets und Amigos nicht ohne Ihre tätige Lese- und Eß-Mithilfe aussetzen. Also auf an die Festtafel: lasset uns prassen und schwelgen - ein Lob der Völlerei; und dem Autor Hartmut Mechtel unseren Dank für das tolle Gericht (und von Karr & Wehner unseren speziellen Beifall für den Hinweis auf unsere Heimat-Lokalität Essen)
Im Namen des Preisgerichtes ergeht also folgender Spruch:
Die Jury der Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur A.I.E.P. DAS SYNDIKAT hat den mit DM 10.000 dotierten GLAUSER 1997 - Krimipreis der Autoren - dem Berliner Autor HARTMUT MECHTEL
für seinen Kriminalroman "Der unsichtbare Zweite" (Argument Verlag) zuerkannt.
Hartmut Mechtel spielt im Kriminalroman "Der unsichtbare Zweite" mit den Regeln des Genre und zeigt, daß der deutsche Kriminalroman seinen Stellenwert innerhalb der Belletristik zu recht behauptet. In eindrucksvollen Bildern und Metaphern zeichnet Mechtel die jahrzehntelange deutsche Trennung und das Nichtwissen beider Seiten voneinander. Die Jury würdigt mit ihrer Entscheidung einen Autor und seinen Kriminalroman, der die politischen und gesellschaftlichen Komponenten der deutschen Wiedervereinigung hervorragend darzustellen wußte. Darüber hinaus würdigt die Jury ihn als einen Meister des Genre, der nicht nur spannend, sondern auch mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen zu schreiben vermag. Bei aller Action mutet sein Roman bewundernswert doppelbödig an. "Der unsichtbare Zweite" ist der erste Teil einer Trilogie in der "Zweiten Reihe" der Ariadne Krimis des Hamburger Argument Verlages. Auch die Fortsetzung "Im Netz der Schatten" hält das hohe erzählerische Niveau.
gehalten am 31.5.1997 im Rahmen der Criminale in Jever.
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Hartmut Mechtel: Danke
Fragmentarische Rekonstruktion meiner Rede auf der Criminale nach Notizen und Erinnerungen.
Ich danke meinen Eltern, Großeltern, Urgroßeltern usw., ohne die ich nicht hier und auch nicht da wäre. Ich danke dem Verlag, der mich druckt und der sogar versucht, meine Bücher zu verkaufen. Ich danke meiner Lektorin Gabriele Reinhold, die nach Peter Paul Zahl nun schon den zweiten Glauser-Preisträger unter ihren Autoren hat. Wie ich hörte, rechnen sich ihre anderen Autoren bereits aus, in welchem Jahr sie an der Reihe sind.
Auch anderen gebührt Dank. Zum Beispiel der Schule. Den Deutschlehrern gelang es zwar, mir die Schulpflichtliteratur zu verleiden, doch stand nicht ein einziger Krimi auf dem Lehrplan, also blieb mein Verhältnis zum Genre ungetrübt.
Mein Dank gilt dem Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik. 1980 verhinderte es gemeinsam mit dem potentiellen Verlag die Veröffentlichung meines ersten Buches, und das war gut, denn der Roman war schlecht und, noch schlimmer, genrefrei und autobiographisch. Wäre der Roman damals erschienen, dann wäre ich ein 08/15-Gegenwartsautor und müßte Bücher schreiben, die ich heute nicht mal lesen mag.
Mit folgendem Zitat scheine ich Richard Hey zu widersprechen, was ich ungern mache, weil ich meine, daß er mit jedem Wort recht hat, und weil ich ihn schätze. Er gehörte zu den Autoren, von denen ich lernte, daß der Krimi der Gesellschaftsroman unserer Zeit sein kann. Wenn er sagt, daß die Literatur der Wirklichkeit hinterherhinkt, dann ist das nicht falsch, doch stimmt meiner Meinung nach auch das Gegenteil: Es gibt Bücher, in denen vorausgedacht ist, was geschieht oder geschehen wird. Die MAZ fragte mich: "Ist der Krimi eigentlich noch ein zeitgemäßes Genre, wo doch die Wirklichkeit die Literatur längst überholt?" Meine Antwort: "Umgekehrt - es geschieht zuweilen, daß der Krimi von der Wirklichkeit eingeholt wird. Wenn man an einen Krimi mehr Ansprüche stellt als das Rätselspiel um einen Täter, wenn man findet, jede Art von Literatur sollte sich mit Wirklichkeit befassen, dann frage ich mich eher, wie man noch irgend etwas anderes schreiben kann als Kriminalromane."
Zurück zum Dank. Meine Ehrenschuld beim MfS habe ich bereits 1994 abgetragen, im Roman "Der blanke Wahn", in dem ein alter Stasimann dem Helden uneigennützig hilft, die Stasi also endlich als der Wohltäterverein dargestellt wird, der sie war. Am Rande: Am Morgen des Tages, als ich nach Jever fuhr, fand ich im Briefkasten einen Brief meines alten Verlages, in dem mir die Verramschung dieses Buches angekündigt wurde. Gutes Timing und cleveres Marketing.
Mein besonderer Dank gilt der Partei- und Staatsführung der DDR, den Grenzsoldaten, den Kampfgruppen der Arbeiterklasse und den Maurern. Der Kriminalroman, zumindest die Sorte, die zu lesen und schreiben ich bevorzuge, ist auch Regionalliteratur. Dank der Fürsorge der soeben Benannten hatte ich die Chance, eine bestimmte, eng und sicher begrenzte Region hinreichend genau kennenzulernen. Das bewahrte mich davor, sterile Rätsel zu konstruieren.
Mit Regionalliteratur meine ich die Genauigkeit des Milieus und der Personnage, nicht Provinzialismus. Ich meine nicht, daß sie nur innerhalb der beschriebenen Region gelesen werden sollte. Schließlich lesen wir auch die New Yorker und Stockholmer und Londoner Regionalkrimis. Warum also die dortigen Regionsbewohner nicht auch uns? Oder doch wenigstens die Kölner einen Berliner und die Dresdner einen Jeverschen Krimi? Wir haben uns im Syndikat zusammengeschlossen - nicht nur, um uns gegenseitig Mut in der Dunkelheit reduzierter Beachtung zuzusprechen, sondern auch, um dem deutsch-sprachigen Kriminalroman zum Durchbruch zu verhelfen. Der Durchbruch steht noch aus, aber der Vormarsch ist nicht mehr aufzuhalten.
Es bleibt der Dank an die Jury.
Genaugenommen schreibe ich darüber, wie es mir gerade geht. Es gibt mir
Auftrieb, zu erfahren, daß zumindest die Juroren sich für meine Befindlichkeit
interessieren. Allerdings, das will ich nicht verschweigen, stellen sie mich vor ein
unvorhergesehenes Problem. Der dritte Band Parr sollte, wie es sich gehört,
finster ausgehen. Jetzt, da es mir besser geht, muß ich ihn wohl happy enden
lassen. Beschwerden darüber bitte an die Jury.
gehalten am 31.5.1997 im Rahmen der Criminale
in Jever.