25.8.14

Die telefonische Mord(s)beratung:
Factsheet Neo Noir

Die telefonische Mord(s)beratung :
"Neo Noir" die dunkelste Seite des Krimis
Samstag, 30. August 2014,
21.05 - 23.00 Uhr
auf WDR5


Ihr Krimi-Kompetenzteam der Mordsberatung:
Reinhard Jahn, "Chief-Inspector" Thomas Hackenberg, Ingrid Müller-Münch und Ulrich Noller.
Foto: WDR, mit freundlicher Genehmigung

Es sind tiefschwarze Geschichten aus den dunkelsten Abgründen des Lebens, die der Noir-Krimi erzählt. Stories über Verbrechen, Mord, Verzweiflung und Ausweglosigkeit.

James Sallis, Daniel Woodrell oder Joe R. Lansdale sind die führenden Vertreter des neuen "noir" Das WDR 5-Krimi-Kompentenz-Team Ulrich Noller (KrimiZeit-Bestenliste), Reinhard Jahn (Bochumer Krimiarchiv) und Ingrid Müller-Münch (Journalistin) hat sich diese und andere Autoren genau angesehen und spürt der Frage nach, was das faszinierende an diesem neuen, dunklen Trend ist. Und selbstverständlich haben die Drei auch die anderen Neuerscheinungen des heißen Krimisommers 2014 im Blick.

Die Hörerinnen und Hörer können sich per Mail an der Sendung beteiligen.
mordsberatung@wdr.de
Redaktion: Petra Brandl-Kirsch
Moderation: Thomas Hackenberg


Schwarz. Schwärzer. Noir


Was ist eigentlich noir?

Erstmal ein bisschen THEORIE:

"Noir" ist zunächst einmal ein französischer Begriff, der sich vom "film noir" ableitet.
Damit wurde eine Gattung von zynisch-pessimistischen amerikanischen Kriminalfilmen aus den 40er- und 50er-Jahren bezeichnet. Der deutsche Begriff "Schwarze Serie" fasst ebenfalls diesen Bereich.
Wikipedia nennt "Die Spur des Falken" (1941, die Verfilmung von Hammetts "Malteser Falken") als ersten und "Im Zeichen des Bösen" (1958) als letzten Film dieser Gattung

Der legendäre Opening Shot von "The sign of Evil": Dreieinhalb Miniten in einer Einstellung


Ein "roman noir" kann zuächst einmal eine hardboiled detective novel sein, also ein harter US-Krimi aus den 50er-Jahren im Stile von Raymond Chandler und Dashiell Hammett, Mickey Spillane und James M. Cain.
Zitat:  -"In ihren Geschichten stehen gesellschaftskritische Gesichtspunkte im Vordergrund, wobei die Hauptfiguren oft „Outsider“ sind und der Fokus auf dem Verbrecher oder dem Detektiv liegen kann."
http://de.wikipedia.org/wiki/Roman_noir

Frankreich, bzw die französischen Intellektuellen waren große Liebhaber des "noir" und "hardboiled" – ihre Lieblingsautoren waren Cornell Woolrich, Jim Thompson und andere. Französische Autoren wie Jean-Patrick Manchette ordnen sich in diese Tradition ein.

"Noir" ist: gesellschaftkritisch, sozial bewusst, in Maßen nihilistisch.
Verbrechen ist in der Regel Ergebnis politischer, gesellschaftlicher Verhältnisse, also struktureller Natur.
Reiner "noir" verzichtet auf einen positiven "Detektiv"-Helden

Zitat: -Der Noir-Krimi ist mehr als nur Krimi. Die Anti-Helden durchleiden nicht nur die Verbrechen, von denen der Noir-Roman erzählt, sondern steigen tief hinab in ihre dunklen Seelen.
-Sie sind keine genialen Denker, oder schlagkräftig und moralisch überzeugende Typen, sondern in sich zerissene, von den (verbotenen) Genüssen des Lebens verführbare Anti-Helden, die unaufhaltsam ihrem düsteren Schicksal entgegen stolpern.
Quelle: http://www.kriminalliteratur.krimischule.de/noirkrimi.html


Beziehungsweise – Zitat Wikipedia:
Der Detektiv ist kein Amateur oder Polizist, sondern ein privater Ermittler, der gegen Bezahlung einen Auftrag übernimmt. Bei seinen Ermittlungen verlässt er sich nicht ausschließlich auf rationale Überlegungen, sondern wendet auch einmal Gewalt an, um Informationen zu bekommen. Es gibt keine radikale Trennung zwischen dem Milieu des Verbrechens und dem des Detektivs: Der Ermittler handelt selbst oft am Rande der Legalität, hat eine zweifelhafte Vergangenheit oder lebt im gleichen Milieu wie die Verbrecher.

Also:

Zusammenfassend könnte man sagen, dass der roman noir sich dadurch auszeichnet, dass er keine scherenschnittartigen Trennungen zwischen Gut und Böse vorstellt, sondern die Grauzone zwischen Gut und Böse, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen individueller und kollektiver Verantwortung erforscht.

Doch lieber ein paar Beispiele?


James M. Cain: Wenn der Postmann zweimal klingelt 

(Double indemnity, 1934)
USA, 30er Jahre. Der Herumtreiber Frank Chambers findet einen Job bei der Takstelle des "Griechen", verällt dessen sinnlicher Frau Cora. Beide bringen den Griechen um. Statt glücklich zu werden, stirbt Cora bei einem Unfall – der von der Polizei für einen Mord gehalten wird – für den man Frank Chambers verurteilt.
Diverse Male verfilmt


Cornell Woolrich: Die Braut trug schwarz 

(The bride wore black, 1940)
Julie Killeen bringt die Männer um, die den Tod ihres Bräutigams verschuldet haben.
Verfilmt von Franclis Truffaut

Und was ist jetzt "neo noir" und "Country noir"?

"Neo noir" nennt man aktuelle Kriminalromane, die Gestaltungselemente des klassischen "noir" für ihre aktuelle Geschichte aufnehmen. Also etwa den zynischen, nihilistischen Grundton, die Schilderung von Verbrechen als Folge gesellschaftlicher oder politischer oder sozialer Verhältnisse. Abkehr von einer definierten positiven Heldenfigur.

Iain Levinson: Hoffnung ist Gift

Schauplatz Dallas. Jeff Sutton, Taxifahrer, gerät in Verdacht, die Tochter seiens letzten Fahrgastes gekidnappt zu hane. Alles spricht gegen ihn, er wird verurteilt, sitzt ein, nur sein Zellengenosse glaubt an seine Unschuld. Und als Jeff dann wirklich entlassen wird, nimmt die Geschichte eine weitere Wendung.

Dave Zeltserman: Paria

Schauplatz Boston. Kyle Nevin, ein "Soziopath mit Charme" kommt aus dem Knast und zieht seinen Bruder Danny, der halbwegs herlich gewordne ist, sofort wieder ins einer verbrecherischen Geschäfte hinein, mit denen er seine früherer Position in der Unterwelt wiedererlangen will. Doch damit nicht genug – das alles, sein "Leben" verkauft Kyle als "Wahre Geschichte" an einen Buchverlag, um damit noch mehr Kohle zu machen.

"Country Noir" 

erzählt all dies in einer ländlichen Umgebung, bisher ausschließlich in den USA. Country Noir kann sich auch, wie bei Joe R. Lansdale, als Jugend- oder Coming of Age-Geschichte tarnen, die meist von einem sehr alten Ich-Erzähler als Erinnerung erzählt wird.


Joe R. Lansdale: Ein feiner dunkler Riss

Dewmont, East Texas, 1958. Stanley, 13, und seine Schwester Callie wachsen im Autokino ihres Vaters auf und erkunden die Umgebung. Sie stoßen dabei auf die Überreste der Villa der Familie Stilwind und auf die düsteren Geschichten und Gerüchte, die sich um ein lange zurückliegendes Familiendrama in diesem Haus ranken.


Joe R. Lansdale: Die Wälder am Fluss

Marvel Creek, Osttexas, in den 30ern. Harry Crane, 11, Sohn des örtlichen Friseurs Constablers, endteckt die misshandelte Leiche einer Farbigen. Erst als ein Unschuldiger gelyncht wird, machts ich Harry mit seiner Schwetser daran, den Mordfall zu "untersuchen". Rassenhass, Ku-Klux-Klan, dumpfe Ignoranz, Aberglaube und Engstirnigkeit zeichnen die Umgebung des Jungen in dem kleinen Ort aus.






5.8.14

Gillian Flynn: Dark Places - Finstere Orte


 Wozu Serienkiller, wenn das Böse doch auch in jedem von uns lebt? Und die Familie die Keimzelle des Verbrechens ist. Gillian Flynn geht mit ihrem neuen Roman dahin, wo der Mord wirklich wehtut.
 Von FOCUS-Online-Autor Reinhard Jahn

Libby Day ist im Mordgeschäft. Libby ist um die 30 und lebt davon, dass sie vor 25 Jahren einem grausamen Familienmassaker entkommen ist. Damals war sie sieben und wurde Ohrenzeugin, wie ein brutaler Killer in das einsam gelegene Farmhaus in Kansas eindrang, ihre beiden Schwestern bestialisch erstach und ihre Mutter erschoß. Und später ihr Bruder Ben als Mörder verhaftet und verurteilt wurde.

Geld für Mord-Souvenirs
 Aber ist Ben wirklich der Täter gewesen? Zweifel sind erlaubt, aber Libby ist das eigentlich egal, solange sie von dem Treuhandfonds leben kann, den mitfühlende Spender seinerzeit mit ihren Spenden für sie, die einzige Überlebende dieses schrecklichen Verbrechens, eingerichtet haben. Bloß: inzwischen sind auch andere schreckliche Morde geschehen, gab es andere bemitleidenswerte Opfer und Hinterbliebene, für die die Menschen jetzt lieber spenden.
Deshalb muss der Treuhandverwalter Libby auch mitteilen, dass das Mitleidsgeld verbraucht ist, das ihr bisher ein passables Leben garantiert hat. Und sie sich am besten ab sofort eine ordentliche Arbeit suchen sollte, wenn sie kein Fall fürs Sozialsystem werden will.
Richtige Arbeit? Das ist nun wirklich nichts für Libby, dafür kokettiert sie viel zu sehr mit ihren verschiedenen Defekten. Antriebslos, kleptoman, egozentrisch - nicht gerade die besten Qualifikationen für einen Job. Aber da gibt es eine Einladung von einer Gruppe von - sagen wir mal - Vebrechensenthusiasten aus dem Fandom für Mord und Totschlag. Sie nennen sich "The Kill Group", sammeln Memorabilien von Serienkillern und tüfteln gern an alten, ungelösten Mordfällen herum. Und möchten deshalb Libby gern als Stargast zu einem ihrer Treffen einladen. Für 500 Dollar. Besser als nichts, sagt sich Libby, und rechnet sich schon mal aus, für wie viel sie den Freaks dann noch ein paar alte Briefe und Fotos ihrer ermordeten Geschwister verkaufen kann
Was Libby dann aus der Bahn wirft: Bei der Kill Group trifft sie gar nicht wenige, die ihren verurteilten Bruder Ben für unschuldig halten. Die sich so in den alten Fall verbissen haben, dass ihre alternativen Mordtheorien durchaus plausibel wirken. Was also, wenn ihr Bruder wirklich nur ein Bauernopfer gewesen ist, der erstbeste und passendste Verdächtige, den die Polizei in Kansas damals auf dem Schirm hatte.
Der Gedanke reißt Libby aus ihrer Lethargie und sie beginnt nachzufragen, nachzuforschen: Was ist damals wirklich gewesen?

Reise in die Vergangenheit
Damit beginnt für Libby eine Reise in die Vergangenheit, zurück an den Tag der Gewalttat, auf die uns Gillian Flynn in ihrem Roman "Finstere Orte" auf eindrucksvolle Weise mitnimmt.
Was geschah damals wirklich auf der Farm in Kansas, auf der sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern mehr schlecht als recht lebte? Sitzt ihr Bruder tatsächlich unschuldig im Gefängnis - und wenn ja: wieso scheint er sich damit abgefunden zu haben?
Gillian Flynn zeichnet ihre Charaktere wie mit dem Rasiermesser - scharf und präzise. Und sie fesselt mit ihrer Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite, indem sie Stück für Stück in einer souveränen Schnitt/Gegenschnitt-Dramaturgie enthüllt, was damals war und was heute daraus geworden ist.
Damals - in Kansas - das war ein Familiendrama erster Güte, die Geschichte einer obsessiven Liebe, in die Libbys Bruder sich verstrickt hatte, eine Familiengeschichte der düsteren Sorte. Weil niemand den Mut zur Wahrheit hatte und die Kleinstadt-Spießer damals in Kansas schneller handelten als dachten.
Heute - das ist die Geschichte von Libby, sie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ihres verpfuschten Lebens herauszieht, indem sie den Blick endlich darauf richtet, wovor sie bislang immer die Augen verschlossen hat: wie sich ihre Familie damals selbst in etwas verstrickt hat, aus dem es nur noch einen Ausweg gab: Mord.
Mit "Cry Baby" hat Gillian Flynn schon einmal bewiesen, wie scharfsichtig sie die mörderischen Irrungen und Wirrungen von Teenagern analysieren kann. Mit "Finstere Orte" zeigt sie, dass die unbestrittene Meisterin des mörderischen Familiendramas ist.

Gillian Flynn
Finstere Orte (Dark Places)
Deutsch von Christine Strüh
Scherz
527 Seiten
16,95 Euro

Tags: Gillian Flynn, Krimi, Familiendrama, Thriller, Farm, Kill group,