8.7.07

Under cover


Da hat Krimi-Autor Harry Luck an seinem Arbeitsplatz entdeckt (oder wurde es ihm entdeckt?), dass ein aktueller Knaur-Titel "Zärtlich küsst der Tod" gar nicht von der aufgedruckten amerikanischen Autorin "Tamara Kelly" stammt.

Deutsche Krimischreiber haben es zuweilen schwer auf dem deutschen Markt. Das weiß auch der Knaur-Verlag und schickt eine amerikanische Phantom-Autorin ins Rennen um die besten Plätze in den Bestsellerlisten.
Beatrix Mannel ist Tamara Kelly
Sie war Psychotherapeutin und lebt mit zwei Katzen und einer Schildkröte in Kalifornien: Tamara Kelly ist Bestsellerautorin, und ihr Roman „Fatal Velvet" ist unter dem Titel „Zärtlich küsst der Tod" jetzt auch auf Deutsch erschienen. Allerdings: Das Buch ist nicht in Kalifornien entstanden, sondern im Münchner Westend. Geschrieben hat es die Autorin Beatrix Mannel, die auch weder Katze noch Schildkröte besitzt. Ein großer Betrug?
Im weiteren Verlauf der Story geht es darum, dass Beatrix Mannel sich gemeinsam mit dem Verlag ein US-alter-ego geschaffen hat (samt US-"Originaltitel" des Buches, samt gefälschtem Original-"US-Verlag") um den Lesern (hier eher: den Leserinnen) eine Übersetzung aus dem Amerikanischen zu suggerieren.

Das erinnert an die guten alten SF-Zeiten, als es etwa hieß, dass man in Deutschland nur SF von US-Autoren kaufen würde. Da hat Walter Ernsting einfach "Clark Darlton" erfunden und trat als "Übersetzer" der Darlton-Romane auf.
Später war sein "Darlton"-Pseudonym dann so eingeführt, dass Ernsting es weiter verwendete - unter anderem um mit Hanns Kneifel die "Perry Rhodan"-Reihe zu erfinden.

Auch Werner Gronwald (Herausgeber bei Heyne in den Sechzigern") hat in seiner Zeit davor als "Übersetzer" der Amerikaner "Ben Warren" und "Ken Barren" deren Western ins "Deutsche übertragen"

Die Reihe lässt sich noch weiter in die Vergangenheit zurückführen, unter anderem zu Robert Grün, der in den zwanzigern und dreißigern als "Übersetzer" die Werke der Amerikanerinnen "Florence Palfrey" und "Margery Glasgow" betreute und sich auch nicht scheute, als der amerikanische Starautor ("ausgezeichnet von den Lesern der Saturday Evening Post") John D. Carr aufzutreten, um dadurch mit dem (echten) Starautor John Dickson Carr verwexelt zu werden. (Was ihm gelungen ist - teilweise werden die Carr-Werke von Grün noch heute in Bibliographien zu dem Dickson-Carrs gezählt)

Und um den Bogen wieder in die Gegenwart zurückzufinden:
Auf den Kauf-mich!-Tischen der Buchhandlungen liegt gerade jetzt:

INVISIBILIS
von Marc Van Allen
Ullstein Taschenbuch

Ullstein erzählt über die Vita von Marc Van Allen etwas von "Geheimdienstvergangenheit" etc und sagt Zitat: Marc Van Allen ist DER neue Name für spannende Unterhaltung. Dahinter steckt ein Autor, dessen Auflagen in die Millionen gehen, der in seinen Romanen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwischt und damit seine Leser begeistert.

Schaut man genau hin, treiben die Ullsteiner den Bluff mit Marc Van Allen nicht so weit wie die Knaurs den ihren mit "Tamara Kelly".
INVISIBILIS sagt im Impressum zwar (C) by Mac Van Allen,
aber dann klein darunter:
Lektorat: Peter Thannisch/Horst Friedrichs

Weiß man jetzt noch, dass Thannisch der Jerry Cotton Lektor (resp: Redakteur) im Hause Bastei ist und Horst Friedrichs selbst langjähriger "Jerry" ist und dazu Experte für Filmromane, liegen die nächsten Vermutungen ja wohl nahe, oder?

2.7.07

Henner Kotte: Abriss Leipzig



Der Tote ist 17 und heißt Steven Bärnstorff, die Eltern heißen Maik-Elias und Solveig, man feiert die Jugendweihe, die ermittelnden Kommissare sind von der "Mord Zwo" und sie heißen Lars Kohlund, Agnes Schabowski, Grischa Mergenthin und Thorst Schmitt. Das ist für den Krimi-Kenner eine klare Indizienlage: Die Geschichte spielt im Osten, in der ehemaligen DDR, in den neuen Bundesländern.

Der Schauplatz: Leipzig, die Zeit: heute, irgendwann 15 Jahre nach der Wiedervereinigung. Das Thema, programmatisch schon im Titel von Henner Kottes Roman, der der erste einer neuen Serie ist: ABRISS LEIPZIG.

Steven Bärnstorff, 17, unauffällig, wird nach einem HipHop-Konzert im Haus Auensee erstochen - in einer Gegend, die bei der Kripo als Schwulen-Strich bekannt ist. Die "Mord Zwo" unter Leitung von Kommissar Lars Kohlund beginnt mit den Ermittlungen...


Schmächtig lag Steven auf Silbermetall. Hüftknochen, Rippen sah Kohlund, den Ansatz einer Trichterbrust. Brustwarze links ein Piercing. Oberer Bauch rechts neben den Rippen die Wunde übersehbar, ein Kratzer vielleicht. Das Schamhaar rasiert. Seine Genitale kaum männlich, Hoden klein.

Kohlund war jedes Mal fasziniert, wenn ein Mensch zum Material mutierte, bar jeder Regung. Nur Körper, Masse, Gegenstand. Dr. Jaenicke sägte vom Brustbein aufwärts. (...) Die Haut des Knaben klaffte, gab das Innere frei. Der Geruch frischen Fleisches. Blut sickerte, floss, sammelte sich, rann in die dafür vorgesehene Kanalisation und hinterließ auf dem Metall rötliche Rinnsale und Tropfen.

Steven, ein ganz normaler Junge mit Clique und Freundin. das Bild bekommt schnell die ersten Brüche.

Steven hat sich am Schwulenstrich zwischen Schularbeiten und Abhängen mit den Kumpels schnell nebenbei ein paar Euro verdient. Die Eltern: entsetzt. Seine Kumpel aus der Clique cool: Na und?

Und seine Freundin Beatrix scheinbar ganz pragmatisch: Es ging doch nur um Geld, geliebt hat er nur mich.

Lars Kohlund fehlte die Strategie im Fall Bärnstorff. Augenscheinlich: zu wenig fassbares Geschehen und die Motive. Augenscheinlich: Konfliktpotential zwischen Eltern und Freunden und Sozialpersonal nicht außerhalb des Normalen. Gab es Menschen, die Gigolos mordeten?

Scharfsichtig seziert Henner Kotte das Leben und das Sterben im Abrissgebiet Leipzig.

Die Stadt: an Architektur alles abgerissen, was keinen Investor mehr gefunden hat. Oder Leerstand, wo keine Mieter mehr zu finden sind. Die Menschen: abgerissen von ihrer Vergangenheit als DDR-Bürger, abgerissen von der Zeit, als das Leben noch hübsch reglementiert war.

Abgerissen auch die Jugendlichen aus der Clique rund um Steven Bärnstorff, 17. Aufgewachsen in der identitätslosen Zeit von Nicht-mehr DDR und noch nicht Deutschland.

Da wird die Region des Regionalkrimis zum No-Go-Area, in dem sich Kommissar Kohlund und seine Kollegen nur mit Mühe zurechtfinden: Ging es bei Steven Bärnstorff nur um Raub, oder war es eine Familientragödie? Oder ist vielleicht doch ein Rosa Ripper auf dem Schwulenstrich rund um die Mensa der Universität unterwegs?

Angeheizt wird das alles durch einen weiteren Überfall auf einen Jungen ausgerechnet aus der Clique, mit der Kommissar Kohlunds Sohn sich herumtreibt. Damit sind die Ermittlungen des Kommissars endgültig in der eigenen Familie angekommen und Kohlund steht vor der Frage, ob er seinen Sohn nur als Zeugen oder auch als Verdächtigen verhören soll.

Derweil schlagzeilt die Lokalpresse hemmungslos mit ihren Spekulationen über Stevens Tod. Steckt nicht doch ein Rosa Ripper hinter den Taten? So ein ordentlicher Serienmörder interessiert natürlich auch die überregionalen Medien. Damit stehen Kohlund und seine Leute am Ende auch noch unter bundesweit unter Beschuss: Abriss Leipzig auf allen Ebenen.

Ein Regionalkrimi kann eben doch etwas anderes sein als heimattümelnde Krimi-Unterhaltung, das ist das Fazit, wenn man ABRISS LEIPZIG gelesen hat. Er kann ein richtig guter Krimi sein, weil er uns etwas über das Leben und die Menschen erzählt: offen, ehrlich, in einer Sprache, die die Widersprüche der Figuren und ihrer Geschichten nicht verleugnet, sondern sie auf den Punkt bringt.

Reinhard Jahn


Henner Kotte
Abriss Leipzig
Festa-Verlag

Der Autor im Internet:
http://henner-kotte.de/

1.7.07

Gänsehaut

Die neuen Gänsehaut-Rezensionen aus dem Mords-Studio von WDR5 sind soeben online gegangen. Jeweils als Text zu lesen und als Radiobeitrag zu hören:

Annette Berr: Die Stille nach dem Mord
Radiobeitrag als mp3

Karin Slaughter: Gottlos
Radiobeitrag als mp3

James Crumley: Land der Lügen
Radiobeitrag als mp3

Jürgen Benvenuti: Big Deal
Radiobeitrag als mp3