19.12.14

Factsheet Polit-Thriller

Factsheet Politthriller
Das wichtigste zuerst:
Was ist eigentlich ein Politthriller?

Abgeleitet von der Definition, die Wikipedia für den Politthriller im Kino findet, kann man sagen:
Zitat:
Der Politthriller unterscheidet sich vom klassischen Thriller dadurch, dass sich die Handlung der Geschichte mit Verwicklungen auf staatlicher Ebene, mit terroristischen Anschlägen, Spionage oder kriminellen Machenschaften staatlicher Institutionen oder deren Vertretern beschäftigt. Dies geschieht durch Einarbeitung von fiktiven politischen Ereignissen, die in existierenden oder fiktiven Ländern stattfinden. Die dargestellten Ereignisse nehmen mitunter Bezug auf reale politische Ereignisse der Vergangenheit.
https://de.wikipedia.org/wiki/Thriller#Politthriller

Halten wir fest:
1. Verwicklung auf staatlicher Ebene
2. Einbeziehung eines politischen Umfelds in die Handlungsentwicklung
3. gegebenenfalls Einbeziehung von terroristischen Elementen
4. gegebenenfalls Einbeziehung von Spionage-Elementen und Agenten
5. Verwendung realer, bzw fiktionalisierter politischer Hintergründe

Zur Beschreibung, was ein Polit-Thriller (jenseits des "Kriminalromans") erzählt, ein Zitat von Eric Ambler (1909 – 1998) , dem Godfather des modernen Polit-Thrillers ("Die Maske des Dimitrios", 1939):
»Bei einem Mordanschlag ist es für mich nicht das Allerwichtigste, zu wissen, wer den Schuss abgegeben hat, sondern wer die Kugel bezahlt hat«

Dahinter steht der Gedanke der "strukturellen Gewalt", bzw des "institutionalisierten Verbrechens", der davon ausgeht, dass in komplexen Organisationen wie Staaten, Konzernen oder Geheimdiensten ein eigenes, vom allgemeinen Konsens abgekoppeltes Rechts- und Unrechtsempfinden herausgebildet wird, bzw Handlungen zum Systemerhalt und Machterweiterung durchgeführt werden, die sich jenseits allgemeiner moralischer Grundsätze bewegen.

Ein Politthriller erzählt dabei nicht notwendigerweise davon, wie solche Entwicklungen enthüllt und bestraft werden, sondern durchaus auch davon, wie das Individuum an der der Aufdeckung scheitert, bzw das Individuum am Ende seine eigene Machtlosigkeit erkennen muss.

Der Polit-Thriller als Kind des Kalten Krieges:

Rund um den James Bond-Zyklus von Ian Fleming, bzw der "Circus"-Welt von John le Carré entstand in den fünfziger Jahren eine blühende Szene von Romanen, in denen die verdeckten Operationen der westlichen Geheimdienste gegen die verdeckten Operationen der östlichen Geheimdienste (das KGB) erzählt wurden.
-Politischer Hintergrund war das "Gleichgewicht des Schreckens" und dessen atomare Bedrohung.
-Die Helden des Kalter-Kriegs-Thrillers sind Männer, mit einem großen M. Oft mit militärischer Vergangenheit (Commander James Bond). Oder aus der Verwaltung des Inneren à George Smiley.

Der Polit-Thriller als Sammelbecken der Verschwörungs-Theoretiker
Mit dem Ende des Kalten Krieges ende der siebziger Jahre rückten "innenpolitische" Themen ins Zentrum des Polit-Thrillers: verdeckte Aktionen staatlicher Einrichtungen, strukturelle Gewalt, Geheimbündelei. Es geht unter anderem um
-ein gescheitertes Attentat auf Charles de Gaulle ("Der Schakal" von Frederick Forsythe)
-die endlosen Spekulationen über die Hintergründe des Attentates auf John F. Kennedy
-ein gescheitertes libysches Atom-Attentat auf New York ("Der fünfte Reiter" von Collins/Lapierre)
-die Korruption und der Zerfall des sowjetischen System ("Gorky-Park") erzählt von einem US-Autor

Nebenzweig: Polit-Thriller als Sammelbecken für Nazi-Folkore
Zyklisch gibt es Wellen von Romanen, in denen es um "geheime Pläne", "geheime Forschungen", "bisher unbekannte Tatsachen" aus der Zeit des Dritten Reiches und besonders der zweiten Weltkrieges geht, die die Grundlage oder Ursache für eine heutige Thriller-Geschichte bilden.
Es geht um
-Geheimwaffen
-Das Bernstein-Zimmer / Beutekunst
-geheime Nazi-Kolonien und Pläne zur Errichtung eines Vierten Reiches.
FAZIT: Das sind in der Regel keine echten Politthriller, sondern spekulative Action-Romane

Aktuelle Polit-Thriller
In den aktuellen Politthrillern werden einerseits die Spionage- und Geheimdienstgeschichten weitergeführt, die im Kalten Krieg Konjunktur hatten. Das Feindbild (bzw die "Gegenspieler") derzeit: religiöse Extremisten ("Islam"), aber auch nationale Extremisten (Ukraine).
Autoren: Olen Steinhauer, Stella Rimington (Ex-MI5-Chefin) , Greg Rucka 
Sobald terroristische, also politische motivierte Verbrechen eine Rolle spielen, kann auch aus einem "normalen" Kriminalroman ein Polit-Thriller werden – prägend hier "Die Brandmauer" von Henning Mankell, in dem es darum geht, wie Kommissar Wallander aus Ystad ein komplexes cyberterroristisches Anschlagsszenario auf das Weltfinanzsystem aufdeckt.

Andererseits sind nicht alle Romane, in denen sich die Handlung im politischen Raum entwickelt, Politthriller – Geschichten von geplanten und gescheiterten Attentaten auf den US-Präsidenten etwa (im Film; "Air Force One", "White House down") sind nicht anderes als im Washington oder der Nähe des Präsidenten angsiedelte Action-Stories.

16.12.14

James Lee Burke: Regengötter


Neun junge Frauen findet Sheriff Hackberry Holland nach einem anonymen Anruf hinter der verlassenen Kirche von Chapala Crossing, einer von Gott verlassenen Ecke von Texas. Hingemetzelt von Mädchenhändlern, für die ein schräger Killer arbeitet, der sich der "Preacher" nennt.
Mit diesem packenden Szenarium beginnt eine moderne Western-Story im Cinemascope-Format, die die Schicksale von Verfolgern und Verfolgten, Jägern und Getriebenen mit perfekter Ökonomie und traumwandlerischem Gespür für Spannung und Atmosphäre auf fast 700 Seiten auffächert.
Was für ein Brocken von einem Buch – nicht nur wegen des Umfangs, sondern auch wegen der Wucht, mit der hier erzählt wird. Die brennende Hitze von Texas, die vielfältigen Figuren, denen man James Lee Burke durch seinen Roman "Regengötter" folgt, führen uns auf ihrem Weg durch ihr Leben bis in die tiefsten Abgründe menschlicher Existenz.   Ganz großes Kino.
Reinhard Jahn WDR5 Mordsberatung

James Lee Burke
Regengötter
Heyne Hardcore

8.12.14

Diese 10 Filme sorgten für Skandale




1928 Der andalusische Hund von Luis Bunuel
In dem surrealistischen Kurzfilm ist zu sehen, wie eine Rasierklinge ein Auge zerschneidet

1947 Monsieur Verdoux  von Charles Chaplin
 

Das Publikum fand es geschmacklos, einen Frauenmörder so menschlich darzustellen, wie Chaplin es tat

1951 Die Sünderin von Willi Forst

 In der Skandalszene ist für einige Sekunden Hildegard Knef als Modell eines Malers nackt zu sehen.

1963 Das Schweigen von Ingsmar Bergman
 

Der Film thematisiert Entfremdung und Existenznot und enthält einige spekulative sexuelle Szenen

1972 Der letzte Tango in Paris von Bernardo Bertolucci

 Die offen dargestellte Sexualität ohne emotionale Bindung zwischen Marlon Brando un Maria Schneider erregte Anstoß.

1973 Der Nachtportier von Liliane Cavani
 

Die Darstellung einer sexuellen Beziehung zwischen einer ehemaligen KZ-Insassin und ihrem ehemaligen Wärter erregte Anstoß.

1975 Die 120 Tage von Sodom von Pier Paolo Pasolini
 

Extreme sadistische Sexualpraktiken werden in Beziehung zu politischen Aussagen gesetzt.

1976 Im Reich der Sinne von Nagisa Oshima
 

Offene Darstellung von Sexualität, bei der sich die Partner am Ende zerstören und verstümmeln.

1988 Die letzte Versuchung Christie von Martin Scorsese

 Die Darstellung Jesu steht im grundsätzlichen Widerspruch zur christlichen Heilsbotschaft

1992 Basic Instinct von Paul Verhoeven
 

Sharon Stone schrieb Filmgeschichte durch die Verhörszene, in der sie keinen Slip trägt.

5.12.14

Die telefonische Mordsberatung auf WDR5
Die besten Krimis des Jahres 2014


Reinhard Jahns "Beste 2014"

Walter Lucius:
Schmetterling im Sturm
Suhrkamp Verlag

Schauplatz Niederlande, Amsterdam. Alles beginnt, als die Journalistin Farah Hafez sich im Krankenhaus nach dem Zustand ihrer Gegnerin erkundigen will, die sie gerade bei einem Kampfsport-Turnier besiegt hat. Es wird gerade ein Unfallopfer eingeliefert – ein ausländisch aussehender Junge, der Mädchenkleider trägt. Farah erkennt die Sprache des Jungen – es ist die Sprache ihrer Heimat Afghanistan. Der Junge ist schwerverletzt auf der Straße in einem Waldstück gefunden worden, wo auch ein ausgebrannter Kombi mit zwei verbrannten Toten steht. Mindestens zwei Dinge sind mysteriös: Die Mädchenkleider, die der Junge trägt, deuten auf ein "Baccha Baazi" hin, bei dem ältere Männer sogenannte Tanzjungen missbrauchen. Und die Tatsache, dass der anonyme Notruf über den Fundort des Jungen von der Gattin eines populären TV-Moderators abgesetzt wurde, der ganz in der Nähe lebt – aber angeblich nichts mit dem Fall zu tun haben will. In all diesen Fragen ermitteln nicht nur die Kommissare Joshua Calvino und der aus Nordafrika stammende Marouan Diba sondern auch bald Farah und auch die Notärztin Danielle Bernson, die den Jungen versorgt hat, will zur Aufklärung beitragen. So beginnt ein großartiges Ensemblestück aus der Feder des fernseherfahrenen Walter Lucius. Es ist der erste Band einer Trilogie, an der Lucius arbeitet, und die viele unangenehm scharfe Schnitte durch die niederländische Gesellschaft legt und einen genauen Blick auf die Korruption in Politik und Wirtschaft wirft. Walter Lucius entwickelt die Geschichte mit großer Dynamik, aber auch mit Blick für Details und Figuren zu einem atemlos spannend erzählten Politthriller über Macht, Politik und Korruption in den Niederlanden und in Europa.
Reinhard Jahn WDR 5 Mordsberatung (Oktober 2014)

Orkun Ertener:
Lebt
Fischer/Scherz

Can Evinmann ist als Ghostwriter für Anna Roth engagiert, die berühmte Schauspielerin und Gattin des Industriellen Martin Eissler. Da bittet ihn eines Tages Ellen Reichert, eine der Assistentinnen von Anna Roth, sich doch einmal mit ihrem Großvater zu treffen – Anton Mahler, hochbetagt, habe angeblich auch eine Lebensgeschichte zu erzählen. Anton Mahler entpuppt sich als ehemaliger SS-Mann, der während der Besetzung Thessalonikis 1942 auch für Gräueltaten verantwortlich war. Als seinerzeit seine Frau von Widerstandskämpfern entführt wurde, hat ein gewisser Chaim Evinmann dafür gesorgt, dass sie – und Anton – überlebten. War dieser Evinmann ein Vorfahre von Can – der zwar türkische Wurzeln hat, aber ansonsten zu hundert Prozent zum deutschen Showbiz-, Medien- und Intellektuellenmileu gehört. Doch die vielen mysteriösen Vorfälle nach seiner Begegnung von Anton Mahler drängen ihm bald den Verdacht auf, dass seine Familie, die Familie um Anton Mahler, und besonders die Familie des Industriellen Eissler und auch die seiner Frau vor mehr als 70 Jahren im besetzten Thessaloniki auf schicksalhafte Art und Weise in tragische Ereignisse verwickelt wurden, die bis heute Auswirkungen haben. Ein opulenter, großer Kriminal- und Familienroman.
Reinhard Jahn WDR 5 Mordsberatung (August 2014)




Richard Crompton:
Wenn der Mond stirbt

Deutscher Taschenbuch Verlag
Nairobi, Kenia, um die Weihnachtszeit des Jahres 2007. Das Land steht vor den Präsidentschaftswahlen. Der Wahlkampf und die Wahl selber, aber auch die dort stattfindenden Wahlfälschungen, bilden den Hintergrund für die Mordermittlung, mit der sich Detective Mollel von der Polizei befasst. Eine junge Frau ist tot in einem Abwasserkanal gefunden worden – eine Massai, wie man an den Stammesnarben erkennt. Mollel selbst ist ebenfalls ein Massai, deshalb interessiert ihn diese Tote besonders. Schnell ist klar, dass die Frau als Prostituierte gearbeitet und Kontakte zu einem einflussreichen Prediger mit einer großen eigenen Kirchengemeinde hatte. Doch warum wurde sie getötet? Hat sie irgendetwas gehört oder gesehen, in dem Park, in dem sie ihren Mörder traf? Oder hatte sie vielleicht sogar Beziehungen zu einem der Politiker, die im Wahlkampf stehen? Der Fall nimmt eine dramatische Wende, als Mollel Hinweise darauf findet, dass die Tote ein Kind zur Welt gebracht haben soll, ehe sie getötet wurde. Das Leben in der Metropole Nairobi bildet den Hintergrund für die Geschichte und die farbenprächtige und detailgenaue Schilderung ist die große Stärke dieses Kriminalromans. Der Autor, ein britischer Journalist, hat offenbar genau hingeschaut, ehe er mit seiner Arbeit begann und mit Detective Mollel, dem "einsamen Massai", wie ich ihn nennen möchte, ist ihm einer des faszinierendsten Protagonisten der letzten Zeit gelungen. Mollel ist irgendwann einmal kaltgestellt worden; jetzt wird er reaktiviert. Er zieht seinen Sohn alleine auf und muss sich gegen seine Schwiegermutter wehren, die den Jungen gern bei sich haben möchte. Und nicht zuletzt hat Mollel als Gegenpart stets seinen Kollegen Kiunga an seiner Seite; einen Pragmatiker, der Mollel manchmal auch vor sich selber schützt.
Reinhard Jahn WDR5 Mordsberatung (Juni 2014)



Bernhard Aichner:
Totenfrau
btb Verlag
Brünhilde Blum, genannt Blum, ist Bestatterin. Mark, ihr Mann, ist Polizist. Als Mark vor ihrem Haus überfahren wird und stirbt, bricht für Blum eine Welt zusammen. Dann, als sie Marks Sachen sortiert, stößt sie auf seinem Handy auf die Gesprächsaufzeichnungen mit einer jungen Frau, Dunja, die Mark vernommen hat, um den Menschenhändlern auf die Spur zu kommen, die Dunja und andere aus Kroatien ins Land gebracht haben, um sie auszunutzen. Als billige Arbeitskräfte und als Prostituierte. Blum macht sich auf die Suche nach Dunja und findet sie. Dunja ist sicher, dass Marks Tod kein Unfall, kein Zufall war. Und Blum nimmt sich vor, die Männer zu finden, die Dunja Gewalt angetan haben, um sie dafür bezahlen zu lassen und um Informationen über Marks Tod zu finden. Der Fotograf, der Priester, der Koch, der Clown und der Jäger. Mehr als diese Beschreibungen kann Dunja von den Männern nicht geben. Doch Blum und ihr Vertrauter Massimo, ein Freund Marks,  finden die Männer, einen nach dem anderen. Und ihre Rache ist grausam; schließlich hat sie als Bestatterin ausreichend Erfahrung im Umgang mit Toten. Eine spannende, vorwärtstreibende Geschichte, ein absolut ungewöhnlicher Stil: Kurze Abschnitte, prägnante Dialoge; Bernhard Aichner ist immer ganz nah dran an seiner Hauptfigur. Er folgt Blum bei ihrem Rachefeldzug, nimmt uns Leser mit ins Boot und lässt uns mitzittern, ob Blum ihr Vorhaben gelingt, und hoffen, dass sie damit davonkommt. Spannung pur, Krimi vom Feinsten.
Reinhard Jahn WDR5 Mordsberatung (April 2014)




Dirk van Versendaal:
Die Engel warten nicht
BTB

Knut Giovanni Myrbäck – mit so einem Namen kann das Leben nicht gutgehen. Myrbäck ist ein mittelgroßer Kleinganove, der gemeinsam mit seinem Kumpel Jan Holzapfel nach Auftrag eines Polen Luxuslimousinen in Hamburg und Umgebung klaut. Die Wagen gehen dann sofort in den Osten und die Sache ist gelaufen. Bis bei einem Job alles schiefgeht; der Audi Q7, den die beiden für Staczek, den Polen, beschaffen, ist kaum in der zwielichtigen Werkstatt ihres Komplizen Raschke abgestellt, als die Werkstatt (und Raschke) in die Luft fliegen. Dann wird bei Drochtersen eine verbrannte Leiche gefunden und Myrbäck und Holzapfel können den Polen nicht mehr erreichen. Irgendjemand scheint hinter ihnen her zu sein. Wer? Das weiß man nicht, aber besser, man haut erst einmal ab – nach Nynäsham, einer Kleinstadt südlich Stockholms, zu Holzapfels Schwester Heidi, einer frustrierten Schulkrankenschwester, die sich um Sassie Linné kümmert, eine wildes Mädchen, das allerdings derzeit eine Hausarrest-Strafe verbüßt und deshalb eine Fußfessel trägt. Sassies Vergangenheit ist eng mit Christiania vernunden, der geduldeten "Autonomen Zone" in Kopenhagen. Schnell fühlt sich Myrbäck zu der unkonventionellen Sassie hingezogen und während er zusammen mit Holzapfel in Kopenhagen mit Autodiebstählen wieder auf die Beine zu kommen versucht, entwickelt sich eine spröde, nicht ganz problemfreie, Liebesbeziehung zwischen den beiden.Eine sehr präzise und mit Blick aufs Detail erzählte Gauner- und Ganovengeschichte aus Norddeutschland und Schweden mit Protagonisten, die einem langsam aber sicher ans Herz wachsen und zwar je mehr, desto mehr sie vom Pech verfolgt werden. Myrbäck und Holzapfel sind die Art von Stehaufmännchen, die man einfach gern haben muss. Auch wenn man immer befürchten muss, dass sie dir den Wagen klauen, sobald du ihnen den Rücken zuwendest. Pulp Fiction made in Germany – frisch, lebendig, komisch und spannend. 
Reinhard Jahn WDR5 Mordsberatung (Februar 2014)




1.12.14

Lee Child
61 Stunden

Bolton in South Dakota, eine Kleinstadt mitten im Winter. Alles ist zugeschneit, die Temperaturen sinken empfindlich unter Null. Hierhin hat es Jack Reacher, den einzelgängerischen Ex-Militärpolizisten verschlagen – als der  Touristenbus, in dem der schwarz mitgefahren ist, in einen Unfall verwickelt wird und man jetzt in Bolton festsitzt.
Und auch gleich in wieder in einen Abenteuer – "Fall" kann bei Jack-Reacher-Romanen nicht sagen – gerät, dass ihm alles abverlangt – und bei dem man sich fragt, wie er am Ende davonkommen wird.
Die Stadt lebt von dem Gefängnis in der Nähe – für das man sich als Standort beworben hat, um den Preis, dass die Polizei von Bolton bei Alarmen im Gefängnis strikte Sicherheitsmaßnahmen durchführen muss.
Im Moment – als eine Kaltfront Bolton mit arktischen Temperaturen und heftigen Schneefällen überzieht – hat Boltons Polizeichef nur eine Sorge: dass Janet Salter am Leben bleibt, eine alte Dame, Professorin, die als Zeugen in einem Verfahren gegen einen der Biker aussagen soll, die sich in einem aufgelassenen Militärstützpunkt am Rand von Bolton eingenistet haben. Dass interessierte Kreise Emma Salter gern töten würden, ist klar.
Noch 61 Stunden bis zum Showdown – so beginnt das Buch und zählt mit jedem Kapitelende die Zeit weiter herunter – bis zum großen feurigen Finale in dem alten Militärstützpunkt, bei dem Jack Reacher einem ultrabrutalen mexikanischen Drogenboss den Garaus macht, der als Hintermann für all die Gewalt verantwortlich war, die in Gestalt der Biker und anderer über die Stadt gekommen ist.
Und der großen finale Feuerball am Ende des Romanes ist zugleich der letzte und größte Cliffhanger, mit dem Lee Child uns dann allein lässt.

Es kann nur einen wie Jack Reacher geben: fast zwei Meter groß, durchtrainiert und als ehemaliger Militärpolizist meist – also eigentlich immer – auf der Seite der Guten. Reacher ist ein Pragmatiker des Lebens, zu dem ganz natürlich auch Gewalt gehört. Die übt er nicht gern aus, aber wenn, dann äußerst effektiv. Jeder Reacher-Roman ist eine neue Expedition auf die dunkle Seite Amerikas – bissig erzählt und kompromisslos auf den Höhepunkt getrieben.,
(Reinhard Jahn WDR Mordsberatung)

Lee Child
61 Stunden-ein Jack Reacher-Roman
München: Blanvalet, 2013

Telefonische Mordsberatung
Ulrich Nollers Top-Krimis 2014

Ulrich Noller - Krimi-Experte bei der Telefonischen Mordsberatung auf WDR5
Foto: Reinhard Jahn

Die Telefonische Mordsberatung auf WDR5
Ulrich Nollers Top-Krimi-Tipps 2014

James Lee Burke:
Regengötter

Texas, irgendwo im Nirgendwo. Ein Anrufer hat nächtliche Schüsse gemeldet, hinter einer verfallenen Kirche findet Sheriff Hackberry Holland neun Leichen. Junge Asiatinnen, zum Teil minderjährig; sie hatten als Prostituierte oder Tänzerinnen gearbeitet, wurden entführt, schließlich mit einem Maschinengewehr aus dem Zweiten Weltkrieg niedergemäht und mit einem Bulldozer notdürftig verscharrt. Ein Massaker, hinter dem keine Einzelperson stecken kann ...
Für seine Leser macht James Lee Burke in seinem wuchtigen, epischen Kriminalroman "Regengötter" nicht lange ein Geheimnis daraus, wer die Frauen getötet hat und warum; die verschiedenen Ermittler, die über kurz oder lang neben dem Sheriff mit dem Fall zu tun haben, tappen auf unterschiedliche Weise mehr oder weniger lange im Dunkeln. Der Spannung tut das keinen Abbruch; sie lebt nicht von der Frage nach der Auflösung des Falls, sondern vielmehr von den Charakteren, die auf unterschiedliche Art direkt oder indirekt mit diesem Fall zu tun haben - und von den Dynamiken, die sich zwischen ihnen ergeben.James Lee Burke, geboren 1936, ist einer der großen alten Männer der (amerikanischen) Kriminalliteratur. Über zehn Jahre lang nahm der deutsche Buchmarkt keine Notiz mehr von ihm und seinen Romanen. Jetzt fasst sich der Heyne Verlag wieder ein Herz, und das hat sich gelohnt: "Regengötter" ist ein herausragender Roman; eine souverän gezeichnete Geschichte wie ein Historiengemälde, auf dem vom ersten Moment an alles zu sehen, trotzdem in jedem Augenblick aber immer wieder Neues zu entdecken ist.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung  (Oktober 2014)
© by Ulrich Noller

ZoranDrvenkar:
Still

Ein Mädchen wurde entführt; sie schweigt, seitdem sie wieder auftauchte. Ein Verlorener baut sich eine neue Identität, in die er eintaucht, um Anschluss zu finden an eine Gruppe von Männern. Männern, die ein dunkles Geheimnis haben, und die ein zweites, ein heimliches, Leben führen neben ihrer ganz durchschnittlichen, bürgerlichen Berliner Existenz. So weit, so einfach, so klar – und (scheinbar) konventionell die Ausgangsbasis, die Zoran Drvenkar für seinen neuen Thriller "Still" gewählt hat. Wie Drvenkar seine Geschichte dann erzählt, das ist allerdings derart atemberaubend, inhaltlich wie formal, dass es einem dem Boden wegzieht beim Lesen. Die Männer entführen Kinder, das Mädchen ist als einzige entkommen; der Verlorene vermisst seine Tochter – der Rest ist eine nervenzerreißende Suche nach dem Bösen, die streckenweise kaum zu ertragen ist, weil Zoran Drvenkar seinem Thema durch die Kraft seiner literarischen Kunst so nahe kommt, dass man sich intuitiv fragt, ob dieses Buch nicht auch "böse" sein könnte. Ist es aber natürlich nicht, sondern ein so verdammt guter Text, dass er schafft, was Literatur in Zeiten der Überproduktion bloß noch selten gelingt: zu erschüttern. Und das weniger wegen des Schock-Effekts, der diesem Thriller innewohnt, als wegen seiner ungeheuren Originalität. "Still" ist ein Meisterwerk, sprachlich brillant, verwegen konstruiert, exzellent komponiert. Ginge es gerecht zu in der Welt (des Literaturbetriebs), würde diese Geschichte in diesem Herbst mit dem Deutschen Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet werden. Wird natürlich nicht passieren, "Still" ist schließlich "nur" ein Spannungsroman. Gut möglich, dass die Buchpreis-Entscheider nicht mal wissen, dass er existiert.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (Juni 2014)© by Ulrich Noller

Tom Hillenbrand: 
Drohnenland
Nachts um Vier geweckt zu werden, um irgendwo auf einem Feld eine Leiche zu begutachten, ist niemals ein Vergnügen. Immerhin; der Mann war gut gekleidet. Das macht es für Aart van der Westerhuizen wenigstens ein bisschen erträglich. Allerdings ahnt der EU-Kripoermittler da noch kaum, welch heftige Ermittlung ihn erwartet: Der Tote war ein Parlamentarier des europäischen Parlaments, und sein Fall ist, das werden die Ermittlungen bald zeigen, nicht der einzige. Tom Hillenbrand, bislang bekannt als Kolumnist und Autor von "Gourmet-Krimis", legt mit Drohnenland einen fulminanten Politthriller vor, der in der nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt ist und die Europäische Union als autoritären, korrupten Überwachungsstaat präsentiert. Das dystopische Bild, das Hillenbrand da entwirft, ist atemberaubend: Teile der EU sind im Meer versunken, die Gemeinschaft führt Energie-Kriege mit dreckigen Methoden, Privatsphäre ist ein Mythos von gestern, weite Teile des täglichen Lebens werden von Rechnern und künstlichen Intelligenzen beeinflusst. Und die Polizei arbeitet mit sogenannten "Spiegelungen"; bestimmte (Verbrechens-) Szenarien werden mit Hilfe der Computer in virtuellen Realitäten rekonstruiert. Drohnenland ist ein Science-Fiktion-Politkrimi mit Elementen des hartgesottenen Ermittlerromans, der gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Entwicklungen der Gegenwart intelligent in die Zukunft weiter denkt und dabei ein paar philosophischmoralische Fragestellungen aufwirft, die es in sich haben.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (Juni 2014)
© by Ulrich Noller

Dennis Lehane:
In der Nacht

Boston, die 1920er Jahre, die Zeit der Prohibition, der großen Gangstersagen – das ist das Setting, in dem "In der Nacht", der aktuelle Romane von Dennis Lehane angesiedelt ist. Ein Milieu, zu dem eigentlich alles schon gesagt ist, so sollte man meinen – aber das stellt sich als Irrtum heraus, wenn man diesen grandiosen Roman liest: “In der Nacht“ ist herausragend gut konstruiert und geschrieben; die Zeit der "Roaring Twenties" wird originell ausgeleuchtet; die Charaktere sind brillant gezeichnet – allen voran der Polizistensohn Joe Coughlin, der unbedingt ein großer Gangster werden will, und Emma Gould, die fatale Liebe seines Lebens. Von Dennis Lehane stammen die Buchvorlagen zu Erfolgsfilmen wie "Shutter Island" oder "Mystic River". Er hat an Fernsehserien wie "The Wire" und "Boardwalk Empire" mitgearbeitet und er ist im Moment einer der interessantesten, weil vielseitigsten Kriminalschriftsteller überhaupt. Im deutschsprachigen Raum ist Lehane
erstaunlicherweise noch nicht so bekannt, wie es seiner Bedeutung entspricht. Gut, dass der Diogenes Verlag sich an einem "Neustart" versucht. "In der Nacht" ist wohl das erste einer Reihe von Werken Lehanes, die bei dem Verlag erscheinen werden, der auch viele Klassiker des amerikanischen Noirs im Programm hat. Das passt, denn Dennis Lehane bietet nicht weniger als Premium-Genreliteratur für Leser mit Erwartungen.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (April 2014)
© by Ulrich Noller

Lee Child:
61 Stunden

61 Stunden beginnt auf dem Highway. Irgendwo im Nirgendwo verunfallt ein Bus voller Rentner, mit dabei: Jack Reacher. Reacher ist ein ehemaliger Militärpolizist, der nichts als seine Zahnbürste besitzt und sich von hier nach da durch die Vereinigten Staaten treiben lässt und dabei, klar, immer wieder in Verbrechen verwickelt wird, die er dann im Auftrag des Guten mit Hirn und Muskeln aufzuklären hat. Diesmal landet er durch den Unfall bei klirrender Kälte also in einer eingeschneiten Kleinstadt namens Bolton in South Dakota, wo die örtliche Polizei eine nette alte Dame zu schützen versucht, die zur falschen Zeit am falschen Ort war und deshalb von der Drogenmafia zum Schweigen gebracht werden soll. Das Problem bei der Sache: Wenn es im örtlichen Privatgefängnis einen Alarm gibt, sind sämtliche Polizisten zum Einsatz um den Knast herum verpflichtet. Und klar, bald heulen die Sirenen. Ganz großartig, wie listig Lee Child aus diesem Setting nicht nur ein ganz spezielles Kleinstadtpanorama, sondern auch eine extrem packende Geschichte wachsen lässt, die im Prinzip einem Showdown auf 448 Seiten gleichkommt. Gäbe es Weltmeisterschaften für Kriminalschriftsteller – das Team "Reacher und Child" gehörte zu den Top-Favoriten. Lee Child ist alles andere als ein avantgardistischer Poser, der auf Metaebenen erzählt und dabei das Rad neu zu erfinden versucht. Er ist ein Handwerker: aber einer, der sein Gewerk zwar schon so perfekt im Griff hat, wie kaum jemand sonst, der aber trotzdem ständig an Präzisierungen und Optimierungen arbeitet. Genau das macht die Lektüre seiner Geschichten insbesondere für Genre-Leser zu einem solchen Vergnügen. Lee Child zu lesen, das ist für Spannungsleser immer wieder ein Fest, denn wie intelligent der in den USA lebende Brite die immer gleichen, im Prinzip puristischen, Grundkoordinaten seiner Geschichten variiert und daraus exzellente Ermittlerthriller zaubert; das hat wirklich größte Klasse.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (Februar 2014)

© by Ulrich Noller / Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung