1.12.14

Telefonische Mordsberatung
Ulrich Nollers Top-Krimis 2014

Ulrich Noller - Krimi-Experte bei der Telefonischen Mordsberatung auf WDR5
Foto: Reinhard Jahn

Die Telefonische Mordsberatung auf WDR5
Ulrich Nollers Top-Krimi-Tipps 2014

James Lee Burke:
Regengötter

Texas, irgendwo im Nirgendwo. Ein Anrufer hat nächtliche Schüsse gemeldet, hinter einer verfallenen Kirche findet Sheriff Hackberry Holland neun Leichen. Junge Asiatinnen, zum Teil minderjährig; sie hatten als Prostituierte oder Tänzerinnen gearbeitet, wurden entführt, schließlich mit einem Maschinengewehr aus dem Zweiten Weltkrieg niedergemäht und mit einem Bulldozer notdürftig verscharrt. Ein Massaker, hinter dem keine Einzelperson stecken kann ...
Für seine Leser macht James Lee Burke in seinem wuchtigen, epischen Kriminalroman "Regengötter" nicht lange ein Geheimnis daraus, wer die Frauen getötet hat und warum; die verschiedenen Ermittler, die über kurz oder lang neben dem Sheriff mit dem Fall zu tun haben, tappen auf unterschiedliche Weise mehr oder weniger lange im Dunkeln. Der Spannung tut das keinen Abbruch; sie lebt nicht von der Frage nach der Auflösung des Falls, sondern vielmehr von den Charakteren, die auf unterschiedliche Art direkt oder indirekt mit diesem Fall zu tun haben - und von den Dynamiken, die sich zwischen ihnen ergeben.James Lee Burke, geboren 1936, ist einer der großen alten Männer der (amerikanischen) Kriminalliteratur. Über zehn Jahre lang nahm der deutsche Buchmarkt keine Notiz mehr von ihm und seinen Romanen. Jetzt fasst sich der Heyne Verlag wieder ein Herz, und das hat sich gelohnt: "Regengötter" ist ein herausragender Roman; eine souverän gezeichnete Geschichte wie ein Historiengemälde, auf dem vom ersten Moment an alles zu sehen, trotzdem in jedem Augenblick aber immer wieder Neues zu entdecken ist.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung  (Oktober 2014)
© by Ulrich Noller

ZoranDrvenkar:
Still

Ein Mädchen wurde entführt; sie schweigt, seitdem sie wieder auftauchte. Ein Verlorener baut sich eine neue Identität, in die er eintaucht, um Anschluss zu finden an eine Gruppe von Männern. Männern, die ein dunkles Geheimnis haben, und die ein zweites, ein heimliches, Leben führen neben ihrer ganz durchschnittlichen, bürgerlichen Berliner Existenz. So weit, so einfach, so klar – und (scheinbar) konventionell die Ausgangsbasis, die Zoran Drvenkar für seinen neuen Thriller "Still" gewählt hat. Wie Drvenkar seine Geschichte dann erzählt, das ist allerdings derart atemberaubend, inhaltlich wie formal, dass es einem dem Boden wegzieht beim Lesen. Die Männer entführen Kinder, das Mädchen ist als einzige entkommen; der Verlorene vermisst seine Tochter – der Rest ist eine nervenzerreißende Suche nach dem Bösen, die streckenweise kaum zu ertragen ist, weil Zoran Drvenkar seinem Thema durch die Kraft seiner literarischen Kunst so nahe kommt, dass man sich intuitiv fragt, ob dieses Buch nicht auch "böse" sein könnte. Ist es aber natürlich nicht, sondern ein so verdammt guter Text, dass er schafft, was Literatur in Zeiten der Überproduktion bloß noch selten gelingt: zu erschüttern. Und das weniger wegen des Schock-Effekts, der diesem Thriller innewohnt, als wegen seiner ungeheuren Originalität. "Still" ist ein Meisterwerk, sprachlich brillant, verwegen konstruiert, exzellent komponiert. Ginge es gerecht zu in der Welt (des Literaturbetriebs), würde diese Geschichte in diesem Herbst mit dem Deutschen Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet werden. Wird natürlich nicht passieren, "Still" ist schließlich "nur" ein Spannungsroman. Gut möglich, dass die Buchpreis-Entscheider nicht mal wissen, dass er existiert.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (Juni 2014)© by Ulrich Noller

Tom Hillenbrand: 
Drohnenland
Nachts um Vier geweckt zu werden, um irgendwo auf einem Feld eine Leiche zu begutachten, ist niemals ein Vergnügen. Immerhin; der Mann war gut gekleidet. Das macht es für Aart van der Westerhuizen wenigstens ein bisschen erträglich. Allerdings ahnt der EU-Kripoermittler da noch kaum, welch heftige Ermittlung ihn erwartet: Der Tote war ein Parlamentarier des europäischen Parlaments, und sein Fall ist, das werden die Ermittlungen bald zeigen, nicht der einzige. Tom Hillenbrand, bislang bekannt als Kolumnist und Autor von "Gourmet-Krimis", legt mit Drohnenland einen fulminanten Politthriller vor, der in der nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt ist und die Europäische Union als autoritären, korrupten Überwachungsstaat präsentiert. Das dystopische Bild, das Hillenbrand da entwirft, ist atemberaubend: Teile der EU sind im Meer versunken, die Gemeinschaft führt Energie-Kriege mit dreckigen Methoden, Privatsphäre ist ein Mythos von gestern, weite Teile des täglichen Lebens werden von Rechnern und künstlichen Intelligenzen beeinflusst. Und die Polizei arbeitet mit sogenannten "Spiegelungen"; bestimmte (Verbrechens-) Szenarien werden mit Hilfe der Computer in virtuellen Realitäten rekonstruiert. Drohnenland ist ein Science-Fiktion-Politkrimi mit Elementen des hartgesottenen Ermittlerromans, der gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Entwicklungen der Gegenwart intelligent in die Zukunft weiter denkt und dabei ein paar philosophischmoralische Fragestellungen aufwirft, die es in sich haben.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (Juni 2014)
© by Ulrich Noller

Dennis Lehane:
In der Nacht

Boston, die 1920er Jahre, die Zeit der Prohibition, der großen Gangstersagen – das ist das Setting, in dem "In der Nacht", der aktuelle Romane von Dennis Lehane angesiedelt ist. Ein Milieu, zu dem eigentlich alles schon gesagt ist, so sollte man meinen – aber das stellt sich als Irrtum heraus, wenn man diesen grandiosen Roman liest: “In der Nacht“ ist herausragend gut konstruiert und geschrieben; die Zeit der "Roaring Twenties" wird originell ausgeleuchtet; die Charaktere sind brillant gezeichnet – allen voran der Polizistensohn Joe Coughlin, der unbedingt ein großer Gangster werden will, und Emma Gould, die fatale Liebe seines Lebens. Von Dennis Lehane stammen die Buchvorlagen zu Erfolgsfilmen wie "Shutter Island" oder "Mystic River". Er hat an Fernsehserien wie "The Wire" und "Boardwalk Empire" mitgearbeitet und er ist im Moment einer der interessantesten, weil vielseitigsten Kriminalschriftsteller überhaupt. Im deutschsprachigen Raum ist Lehane
erstaunlicherweise noch nicht so bekannt, wie es seiner Bedeutung entspricht. Gut, dass der Diogenes Verlag sich an einem "Neustart" versucht. "In der Nacht" ist wohl das erste einer Reihe von Werken Lehanes, die bei dem Verlag erscheinen werden, der auch viele Klassiker des amerikanischen Noirs im Programm hat. Das passt, denn Dennis Lehane bietet nicht weniger als Premium-Genreliteratur für Leser mit Erwartungen.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (April 2014)
© by Ulrich Noller

Lee Child:
61 Stunden

61 Stunden beginnt auf dem Highway. Irgendwo im Nirgendwo verunfallt ein Bus voller Rentner, mit dabei: Jack Reacher. Reacher ist ein ehemaliger Militärpolizist, der nichts als seine Zahnbürste besitzt und sich von hier nach da durch die Vereinigten Staaten treiben lässt und dabei, klar, immer wieder in Verbrechen verwickelt wird, die er dann im Auftrag des Guten mit Hirn und Muskeln aufzuklären hat. Diesmal landet er durch den Unfall bei klirrender Kälte also in einer eingeschneiten Kleinstadt namens Bolton in South Dakota, wo die örtliche Polizei eine nette alte Dame zu schützen versucht, die zur falschen Zeit am falschen Ort war und deshalb von der Drogenmafia zum Schweigen gebracht werden soll. Das Problem bei der Sache: Wenn es im örtlichen Privatgefängnis einen Alarm gibt, sind sämtliche Polizisten zum Einsatz um den Knast herum verpflichtet. Und klar, bald heulen die Sirenen. Ganz großartig, wie listig Lee Child aus diesem Setting nicht nur ein ganz spezielles Kleinstadtpanorama, sondern auch eine extrem packende Geschichte wachsen lässt, die im Prinzip einem Showdown auf 448 Seiten gleichkommt. Gäbe es Weltmeisterschaften für Kriminalschriftsteller – das Team "Reacher und Child" gehörte zu den Top-Favoriten. Lee Child ist alles andere als ein avantgardistischer Poser, der auf Metaebenen erzählt und dabei das Rad neu zu erfinden versucht. Er ist ein Handwerker: aber einer, der sein Gewerk zwar schon so perfekt im Griff hat, wie kaum jemand sonst, der aber trotzdem ständig an Präzisierungen und Optimierungen arbeitet. Genau das macht die Lektüre seiner Geschichten insbesondere für Genre-Leser zu einem solchen Vergnügen. Lee Child zu lesen, das ist für Spannungsleser immer wieder ein Fest, denn wie intelligent der in den USA lebende Brite die immer gleichen, im Prinzip puristischen, Grundkoordinaten seiner Geschichten variiert und daraus exzellente Ermittlerthriller zaubert; das hat wirklich größte Klasse.
Ulrich Noller WDR 5 Mordsberatung (Februar 2014)

© by Ulrich Noller / Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung

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