29.11.03

Anne Chaplet:
Schneesterben



Als der Schnee schmilzt in Klein-Roda, dem Dorf im Vogelsberg, kommt nicht nur die Leiche des ermordeten Kriegsreporters Hansen ans Licht. Paul Bremer, der Werbetexter, der sich die dörfliche Ruhe als Gegenmittel zum hektischen Frankfurt verordnet hat, enthüllt mit seiner platonischen Freundin Karen Stark den vielen miteinander verwobenen Dorfgeheimnisse: "Schneesterben" ist eine große Geschichte über Liebe und Tod, das Dorf und die Stadt, die Vergangenheit und die Gegenwart. Mit dem wundervoll spannend erzählten Roman schließt Anne Chaplet ihr deutsches Tableau, mit dem sie seit ihrem Krimi-Erstling "Caruso singt nicht" (1998) konsequent und kriminell gut den Zeitgeist der Republik beobachtet hat - in subtil konstruierten Gesellschafts-Krimis über die Wohlfühlspezialisten der Toskana-Fraktion ("Wasser zu Wein"), über Liebe und Verrat ("Caruso singt nicht mehr"), das deutsche RAF-Trauma ("Die Fotografin) bis hin zu den Beziehungen zwischen Politik und Presse ("Nichts als die Wahrheit").

Gebundene Ausgabe
320 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
September 2003

26.11.03

Anne Chaplet: Schneesterben

Einen Winter, in dem so viel Schnee fällt, hat man in Klein-Roda lange nicht erlebt. Und dass er so lange liegen bleibt, noch seltener. Als es endlich taut, sind alle erleichtert, auch Paul Bremer, der Schneeschippen hasst - wie alle ehemaligen Städter, obwohl er schon lange in Klein-Roda wohnt. Unter dem Schnee lag manches verborgen, was jetzt ans Tageslicht kommt - auch die Leiche von Michael Hansen, dem bekannten Kriegsreporter, der nicht in fernen Krisengebieten, sondern auf der Schotterstraße vor einem einsamen Ferienbungalow zu Tode kam.

In ihrem fünften Kriminalroman kehrt Anne Chaplet an den Schauplatz ihres ersten Romans "Caruso singt nicht mehr" zurück und erzählt eine ungeheuerliche Geschichte, eine Geschichte von Schuld und Sühne, von Zufall und Schicksal, von kindlicher Grausamkeit und grausamen Erwachsenen und vom Fluch der Erinnerung.


True love can wait - für den in die hessische Provinz emiritierten Werbetexter Paul Bremer eine Aufgabe, der er sich mit Hingabe widmet. Die entfernte Geliebte ist in Politgeschäften in aller Welt unterwegs, während Bremer in Klein-Roda vom zugezogenen Städter zum Aushilfs-Ortsvorsteher mutiert. Und deshalb - aber nicht nur deshalb - mit den seltsamen Vorkommnissen zu tun bekommt, die in dem Örtchen, das wir Städter mit ruhigem Gewissen "Kaff" nennen würden, für Unruhe sorgen.

Da ist zunächst mal der Tote, der auftaucht, als der Schnee auftaut: Michael Hansen, Ex-Kriegsreporter, und auf recht uneindeutige Weise mit Krista Regler verbandelt, Gattin des Kinderdoktors aus der Neubau-Siedlung, der aktuell eine Menge Probleme hat, weil ihm ein kleiner Patient ex gegangen ist.

Krista Regler und Michael Hansen - das war auch eine Liebesgeschichte, wie sich langsam im Dorfklatsch und für Paul Bremer mit ein wenig Hilfe des Kommissars Kosinski herauskristallisiert. Eine ganz normale Dreierkiste, in der zwei mehr miteinander zu tun hatten als sie eigentlich hätten sollen - und bei der dann einer durchgeknallt ist und den Edelreporter mit dem Jeep umgefahren hat. So einfach sind Geschichten auf dem Dorf.
Oder auch nicht - denn was an dem Mordfall Hansen stört, ist eine seltsame Verletzung des Toten, die auf einen zweiten Täter schließen lässt. Michael Hansen ist quasi ein doppelter Toter in der Liebesgeschichte mit dem doppelten Boden.

True love can wait - das sagt sich auch Karen Stark, taffe Staatsanwältin aus Frankfurt und deshalb mit dem Fall Hansen und der Klageerhebung gegen die geständige Krista Regler befasst. Karens true love ist ein Pathologe mit sanften Händen, der mit beständigen love-mails den Hormonhaushalt der Rechtsvertreterin gehörig aus dem Gleichgewicht bringt.

Und mit seinem Gutachten über die doppelten todesursächliche Verletzung des Michael Hansen im Prozess gegen Krista Regler auch Karen Starks Mordanklage in sich zusammenfallen lässt. Als dann in der Verhandlung nach bester courtoom-drama-Manier auf einmal Kinderarzt Dr. Regler erklärt, mehr Informationen über den Tatverlauf zu haben als er eigentlich haben dürfte, kippt die Sache vollends. Krista kommt frei, ihr Gatte in U-Haft und alles scheint noch einmal von vorn loszugehen.

Stoff für mehr als einen Kriminalroman, möchte man meinen, wenn man feststellt, dass mit diesen Verwicklungen und Wendungen Anne Chaplets Geschichte vom "Schneesterben" gerade erst einmal hundert Seiten hinter sich gebracht hat. Ein Stoff, der sich auf den nächsten zweihundert Seiten beständig weiterentwickelt zu einer großen Geschichte über Liebe und Tod, das Dorf und die Stadt, die Vergangenheit und die Gegenwart. Eine wundervoll verwobene und spannend erzählte Geschichte, mit der sich Anne Chaplet wohl endgültig ihren Platz als Königin des deutschen Krimis gesichert hat.

Das kommt nicht von unverhofft und schon gar nicht unverdient: Mit dem Deutschen Krimi Preis für "Nichts als die Wahrheit" und den aktuellen "Radio Bremen Krimi Preis" hat die Krimi-Szene die Karriere der Chaplet'schen Provinz-Geschichten bisher bereits gewürdigt, die seit 1998 erscheinen und immer komplexer werden. "Schneesterben" markiert dabei offenbar zunächst einmal den Abschluss eines Zyklus: am Ende finden - true love can wait - erst einmal die verschiedenen Paare zusammen, deren Ver- und Entwicklungen Anne Chaplet seit ihrem Krimi-Erstling "Caruso singt nicht" (1998) mehr bis heute verfolgt hat - mit einem spöttisch-liebevollen Zwinkern verweigert sie allen Happy-End-Junkies das kiss-off des jetzt wohl ewig-platonisch bleibenden Paares Paul Bremer und Karen Stark: und so sehen wir betroffen - den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Mit dem "Schneesterben" schließt Anne Chaplet ihr deutsches Tableau, mit dem sie in den letzten fünf Jahren konsequent und kriminell gut gegen den Zeitgeist der Republik gestichelt hat - in ebenso subtil wie konsequent konstruierten Gesellschafts-Kriminalromanen über die Wohlfühlgesellschaft der Toskana-Fraktion ("Wasser zu Wein"), über Liebe und Verrat ("Caruso singt nicht mehr"), das RAF-Trauma und seine Folgen ("Die Fotografin) bis hin zu den untergründigen Beziehungen zwischen Politik und Presse ("Nichts als die Wahrheit").

Das ist die Stelle, an der normalerweise zu sagen wäre, dass Anne Chaplet gar keinen Krimis schreibt, sondern "echte" Romane - aber es wird nicht gesagt, denn nichts wäre falscher. Wenn der Kriminalroman eine Gattung ist, die einen Blick auf die Zeit wirft, dann sind Anne Chaplets Romane Kriminalromane wie sie sein sollten. Und wie wir sie sicher auch in Zukunft von ihr erwarten werden können.
Bleibt nur die Frage: Wann.
Aber: true love can wait.

krimi-forum.de / Rezension

Anne Chaplet:
Schneesterben
Antje Kunstmann
September 2003