5.1.14

Vorwärts, 4/1983
Im Grunde zwei extreme Berufe
Portrait Volker W. Degener

Schriftsteller-Porträts (VII)
Im Grunde zwei extreme Berufe
Ein schreibender Polizist beschreibt detailgenaue Beobachtungen. 

Von Reinhard Jahn.

Volker W. Degener ist Polizist und Schriftsteller. Oder Schriftsteller und Polizist. Er sagt: »Beides sind im Grunde extreme Berufe - aber sie verlieren das Extreme, wenn man sie beide ausübt. «

Ein nasskalter Abend im Bochumer Uni-Center. Die Läden sind seit einer halben Stunde geschlossen, das Leben in den Kneipen, den Pizzerien, der Spielhalle und dem Kino läuft noch auf Sparflamme. Im verglasten Treppenhaus des Wohnturmes hängen ein paar junge Typen in schwarzem Lederzeug herum - von oben weht Rockmusik herunter, ständig zerhackt vom Knallen der schweren Eisentür, die zum Jugendzentrum führt.
Was sich an menschlichem Leben hinter den Querenburger Betonmauern abspielt, taucht immer erst dann auf, wenn es extreme Formen angenommen hat. Dann findet es sich im Bericht der eingebauten Polizeiwache wieder, und manchmal auch in den Spalten der Lokalpresse: Selbstmorde, Schlägereien, Gewalttätigkeiten, Vandalismus.
Auf den ersten Blick erscheint es merkwürdig, dass dieser jugendlich aussehende Vierziger, der uns entgegenkommt, zu jenen Polizisten gehört hat, die hier für Ruhe und Ordnung sorgten. So stellt man sich eher einen Sozialarbeiter vor: Volker W. Degener, rotblondes Haar, Geheimratsecken, Schnauzbart, Cordjeans Hauptkommissar und mittlerweile als Sprecher in der Pressestelle der Bochumer Polizei:
"Ich wäre nicht der Schriftsteller, der ich bin", sagt er, "wenn ich nicht vorher die Einblicke des Polizeibeamten gehabt hätte. Aber umgekehrt ist es genauso: Ich wäre wahrscheinlich nicht der Polizeibeamte geworden, der ich jetzt bin, wenn ich nicht als Schriftsteller versucht hätte, meine Sensibilität zu bewahren. Beides sind im Grunde extreme Berufe - aber sie verlieren das Extreme, wenn man sie beide ausübt."

"Drop-outs" im Mittelpunkt

So ist es kaum verwunderlich, dass die Menschen und Schicksale, mit denen Degener bei der Ausübung seines Berufes konfrontiert worden ist, insbesondere während seiner Dienstzeit zwischen 1973 und 1977 im Bochum-Querenburger Uni-Center, in seinen Büchern wieder auftauchen: Benachteiligte, Randgruppen, Außenseiter, sei es in dem Roman "Heimsuchung", dem Erzählungsband "Einfach nur so leben", dem Jugendroman "Geht's uns was an?" oder dem Band "Die Reporter aus der vierten Klasse".
1976 erhielt er den Literatur Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, seit 1971 ist er Mitglied des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) und seit 1978 der Vorsitzende des Verbandes in Nordrhein-Westfalen.
Die Drop-outs, jene, die sich der bürgerlichen Gesellschaft verweigern und deshalb auch ausgeschlossen werden, stehen im Mittelpunkt von Degeners vorsichtig sich annähernden Erzählungen.
"Heimsuchung" ist die Geschichte einer Motorradclique irgendwo zwischen Bochum und Dortmund. Und Kapitel für Kapitel schlüpft er in eine andere Rolle, schreibt aus der Sicht der Jugendlichen, die keine Zukunft und keine Gegenwart haben und mit der bürgerlichen Ordnung in Konflikt geraten. Kein Krimi, kein Sozialroman, einfach eine realistische Studie.
Schreiben heißt für Degener• Erlebnisverarbeitung: "Oft wird mir vieles klarer, wenn ich darüber geschrieben habe!" Das hat viel mit be-schreiben zu tun: detailgenauen Beobachtungen, Verdichten von realen Ereignissen und fiktionalen Texten. Und genauso, wie Degener sich beim Schreiben über Ursachen und Zusammenhänge klar wird, geht es auch dem Leser: er glaubt zu verstehen.
Es sind keine Kunstfiguren, die in seinen Geschichten auftreten, für jeden gibt es ein reales Vorbild, nach dessen Zügen die Figur entworfen wird, reale Wesenszüge sind lediglich verdichtet, genauer gefasst, zusammengezogen.

Degeners Helden sind Menschen, in deren Leben eine resignative, beinahe hoffnungslose Grundstimmung vorherrscht: "Ich würde als Autor die Wirklichkeit verleugnen, wenn ich bei solchen Geschichten versuchen würde, ein positives Ende oder einen Lichtblick zu konstruieren. Das liegt nicht an einer negativen Lebenseinstellung meinerseits, das hat nur etwas mit den Leuten zu tun, die ich beschreibe."

Vom Blitzlicht eingefroren

Hoffnung klingt allenfalls an, wenn er für Jugendliche und Heranwachsende schreibt: Zwar versucht er auch in seinen Jugendbüchern und Kinderhörspielen den Lesern und Hörern keine bunte Traumwelt vorzumachen, aber er versucht wenigstens, "sie in ihrem alltäglichen Leben zu ermutigen und zu stabilisieren". 
Damit gibt er sich manchmal mehr Mühe als mit seinen Erwachsenenbüchern: "Für Kinder muss man genauso schreiben wie für Erwachsene, nur besser." 
Er ist kein verbissener Erfolgsautor. Volker W. Degener ist ein umgänglicher, nachdenklicher Mensch, der nun halt mal im Polizeidienst arbeitet und sich Gedanken über die Leute macht, mit denen er zu tun hat. Die Kollegen freilich sehen das nicht besonders gern, nehmen es nur zur Kenntnis: "Unser Schriftsteller!"
"Letztlich", sagt Degener, "schreibe ich nur für mich allein. Und erst wenn das Manuskript fertig ist, stellt sich die Frage, für welchen Verlag es vielleicht in Frage kommt." Womit vielleicht auch geklärt ist, warum seine sieben Bücher in sechs verschiedenen Verlagen herausgekommen sind.
Das Gespräch ist zu Ende. Wir gehen noch einige Schritte durch Beton und Neon, um Fotos zu machen. Und so still und unauffällig, wie er vor dem Hintergrund des nächtlich-kalten Uni-Centers vom Blitzlicht eingefroren wird, so genau passt Degener in diese Umgebung.
Das Milieu hat Spuren hinterlassen: Trotz aller Offenheit und Mitteilungsbereitschaft hat er sich immer unter Kontrolle gehabt, hat die Grenzen genau abgesteckt, über die er nicht hinausgehen wollte. Der Polizist Degener blieb dadurch undeutlich im Hintergrund, dem Menschen konnten wir nur ein bisschen begegnen.
ENDE

Reinhard Jahn: "Im Grunde zwei extreme Berufe", 
Portrait Volker W. Degener
Veröffentlicht in
Vorwärts / Journal 
20. Januar 1983, Nr. 4, Seite 28, 



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