6.12.09

Böse ist wer Böses tut
Warum im Kriminalroman immer die Guten gewinnen

von Reinhard Jahn

Wir haben den Geburtstag knapp verpasst. Der deutsche Krimi ist im vergangenen Jahr 50 geworden, und zwar am 10. März.
Denn am 10. März 1956 kam der deutsche Krimi in Bergisch-Gladbach zur Welt. Und zwar ungefähr so:

Ich war ahnungslos wie ein neugeborenes Baby, als der ganze Zauber losging. Es mag gegen acht Uhr abends gewesen sein, als ich mit meinem Jaguar vor meinem Haus hielt. Phil und ich hatten nach Dienstschluss noch schnell in einem Drugstore etwas gegessen und zwei, drei Whisky zum leichteren Einschlafen zu uns genommen, dann war ich nach Haus gefahren. Ich schloss die Tür auf und ging hinein. Nachdem ich das Licht in dem kleinen Flur angeknipst hatte, hängte ich meinen Hut an einen Garderobenhaken und den Mantel dazu. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Dieser Tür gegenüber steht ein großer Garderobenspiegel. Im Wohnzimmer war es noch dunkel. Der Henker mag wissen, warum ich ausgerechnet an diesem Abend vor dem Spiegel stehen blieb und meine Gestalt musterte. Jedenfalls blieb ich vor dem Spiegel stehen und drehte der offenen Wohnzimmertür dadurch den Rücken zu.
Ich musterte mich ahnungslos im Spiegel, da hörte ich aus dem Wohnzimmer eine laute Stimme:
»Los!«
Das »Los« war noch nicht ganz raus, da lag ich auch schon im Flur neben der Tür in Deckung. Noch im Fallen zischten die Kugeln aus einigen Kanonen an mir vorbei. Der Spiegel war innerhalb von zwei Sekunden hinüber.
Ich stutzte. Was da geschossen hatte, war außer gewöhnlichen Kanonen auch eine Tommy Gun gewesen, eine Maschinenpistole. Meine Smith & Wesson saß in meiner Hand.
"Ich starb um 11 Uhr 20",
Jerry Cotton CLASSIC.
Heft 71, März 2007
Erstveröffentlichung als "Jerry Cotton"-Heft Nr 15, cirka 1956


Gezeugt worden war der deutsche Krimi einige Monate vorher, und zwar im Ruhrgebiet - von einem 31-jährigen Vertreter des Henkel-Konzerns, der sich bei einem Spaziergang mit einem Freund vorgenommen hatte, eine Jux-Figur zu entwickeln, mit der er die ganze Gattung "auf die Schippe nehmen wollte". Die Juxfigur nannte er Jeremias Baumwolle, beziehungsweise weil der Roman, den er schrieb, in Amerika spielte: Jerry Cotton.

Jerry Cottons erstes Abenteuer hieß "Ich suchte den Gangster-Chef" und erschien 1954 als Romanheft in der Krimi-Reihe des Bastei-Verlages in Bergisch-Gladbach. Der Verlag gehörte einem 35-jährigen Jungunternehmer namens Gustav H. Lübbe, einem ehemaligen Schriftsetzerlehrlings und Luftwaffenoffizier, der sich nach dem Krieg als freier Journalist, Rundfunk-Reporter, dpa-Korrespondent und Feuilleton-Redakteur durchgebracht hatte, ehe er den kleinen Verlag bei Köln erwarb, für den Woche für Woche für ein paar hundert Mark Autoren auf 64 Druckseiten Liebes- und Western- und Krimi-Abenteuer schrieben.

Mit Jerry Cotton, so heißt es, fand die Durststrecke des Verlages ein Ende, dessen Chef noch bis dahin mit seiner Frau die aktuelle Produktion höchstpersönlich im Kleinwagen an die Verkaufsstellen auslieferte. Denn die Leser verlangten offenbar nach immer mehr Abenteuern des FBI-Agenten (bzw G-Man) Jerry Cotton und seines Kollegen Phil Decker. Also erlebte Jerry Cotton seine zweite Geburt: An besagtem 10. März 1956 ging er als eigene Romanheftserie aus dem Hause Bastei an den Markt - und dort ist er bis heute geblieben.
Im vergangenen Jahr feierte Cotton also seinen 50sten Geburtstag, in der Heftreihe sind bisher mehr als 2500 Romane erschienen, dazu kommen noch etwa 500 Titel in der Cotton-Taschenbuch-Reihe. Zwischen 1965 und 1968 wurden sieben Cotton-Kinofilme gedreht, in denen der US-Darsteller George Nader meist vor notdürftig amerikanisierten deutschen Kulissen gegen das Verbrechen antrat - in seinem knallroten Jaguar E-Type, unterstützt von seiner Smith & Wesson und seinem Freund Phil Decker.

Aber was hat - fragen sicher jetzt nicht nur die Studienräte unter uns - was hat ausgerechnet Jerry Cotton mit dem deutschen Kriminalroman zu tun? Denn ist Cotton nicht das Ur-Bild des amerikanischen Bullen? Finden seine Abenteuer nicht fast durchweg in den Staaten statt, und sind sie nicht zuletzt auch - sagen wir es ehrlich: Schund?

Die kurze Antwort auf alle drei Fragen ist ein klares Ja.

Denn die Kriminalliteratur oder kurz: der Krimi - war in ihren Anfängen nichts anderes als Schund, beziehungsweise Trivialliteratur, kurz Unterhaltungsliteratur.
Entstanden ist dieser Erfolg freilich auf einer literarischen Grundlage: Den Erzählungen um die Ermittlungen des Chevalier Auguste Dupin, die der Amerikaner Edgar Allan Poe zwischen 1841 und 1843 veröffentlichte. Seine Geschichte vom "Doppelmord in der Rue Morgue" (1841) gilt als die Gussform für alle weiteren Detektivgeschichten - angefangen bei Sherlock Holmes über Hercule Poirot bis hin zu Kommissar Maigret und Kurt Wallander. Ihr Grundmuster findet sich auch heute noch in den Abenteuern aller Forensiker und Pathologen, die seit etwa 10 Jahren durch zahllose Romane geistern und aktuell auch fast jeden Tag auf den Bildschirmen gegen das Böse in der Welt antreten: Kay Scarpetta und Temperance Brennan, beides Pathologinnen, Agent Clarice Starling, die Ur-Mutter aller FBI-Profiler, und schließlich derzeit auch all jene CSI oder CIS oder RIS-Spezialisten, die dem Bösen mit Mikroskop, Gaschromatographen und schweren Handfeuerwaffen entgegentreten.

Gehen wir also erst einmal zurück zur Erfindung des Genres und machen wir einen kurzen Streifzug durch die Geschichte der Verbrechensdichtung - landläufig "Krimi" oder literaturwissenschaftlich eindeutiger "Kriminalroman", bzw "Detektivroman" bzw auch "Thriller" oder "Spannungsroman" genannt.
Also: Wer hat's erfunden?

Die Erfindung des Genres fand im angelsächsischen Raum statt - nach dem Urknall, den Edgar Allan Poe lieferte, erblickte am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Großbritannien mit Sherlock Holmes der erste Superstar der Kriminalliteratur das Licht der Welt.
Hier in Merry Old England gestalteten auch später in der Zwischenkriegszeit um 1920 auch die beiden großen Damen des britischen Landhaus-Krimis das sogenannte "goldene Zeitalter", das golden age des Kriminal, bzw Detektivromans: Dorothy Sayers und Agatha Christie.

In den Geschichten über den Meisterdetektiv Sherlock Holmes wurden das Muster des Detektivromans und das Bild des genialischen Ermittlers perfektioniert.

Wir schreiben das Jahr 1878, der Ort ist London. Ein junger britischer Militärarzt ist gerade aus dem Afghanistan-Krieg zurückgekehrt. Im Peshawar-Hospital hat er eine Verwundung auskuriert, nun sucht er eine Beschäftigung.
Ein Freund aus Studententagen bringt den jungen Doktor John A. Watson in das Labor eines Hospitals. Doktor Watson berichtet:

"Wir dachten zuerst, der Raum sei leer, bis wir an dem andern Ende einen jungen Mann gewahrten, der, in seine Beobachtungen versunken, über einen Tisch gebeugt dasaß. Beim Schall unserer Fußtritte blickte er von seinem Experiment auf und sprang mit einem Freudenruf in die Höhe. "Viktoria, Viktoria!" jubelte er und kam uns, mit der Retorte in der Hand entgegen. "Ich habe das Reagenz gefunden, das sich mit Hämoglobin zu einem Niederschlag verbindet und sonst mit keinem Stoff."
Arthur Conan Doyle: "Studie in Scharlachrot" Übersetzt von Beatrice Schott, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Hrsg. von Nino Erne, Band V, Frankfurt/Berlin 1980 (Ullstein Taschenbücher)


Der junge Mann wird Doktor Watson als Sherlock Holmes vorgestellt - und damit beginnt ein beispielloser Erfolg - eine Medienkarriere würden wir heute sagen, von Harry Potterschen Ausmaß. Seine Popularität verdankte Sherlock Holmes im wesentlichen der Massenpresse - seine Abenteuer erschienen zunächst meist erst in dem Magazin THE STRAND und erst danach in Buchform: in vier Romanen und sechsundfünfzig Kurzgeschichten erzählte Arthur Conan Doyle, ein ausgebildeter Arzt mit Hang zur Schriftstellerei, von den Abenteuern und Kriminalfällen des Mannes mit dem prägnanten Profil aus der Baker Street 221b, der sich auf seiner Visitenkarte bescheiden als "beratender Detektiv" bezeichnet.

Holmes, wie wir ihn durch den Blick und die Beschreibung seines treuen Chronisten Doktor Watson kennenlernen, ist ein großer schlanker Mann, modisch konservativ mit Inverness-Mantel und Deerstalker-Hut bekleidet, er ist von Auftreten und Umfeld her scheinbar bürgerlich - wüsste man nicht durch Watsons Erzählungen - oder soll man sagen: Indiskretionen? - , dass der Meister gelegentlich auch dazu neigt, den Tag gelegentlich mit einer Spritze Kokain zu beschließen. Das war zur der Zeit, in der die Holmes-Geschichten entstanden noch nicht so strafbar wie heute, aber es gehörte auch sicher nicht zur allgemein akzeptierten Freizeitgestaltung.

Die Fähigkeit, die Holmes zu etwas besonderem macht - zum Meisterdetektiv - ist seine analytische Intelligenz, seine Fähigkeit zur Schlussfolgerung. "Er besitzt eben eine besondere Gabe", formuliert es sein Chronist Watson.
Und damit ist nicht gemeint, dass Holmes ein guter Violinspieler, ein gewandter Boxer und ein ausgezeichneter Fechter ist.
Auch nicht seine sehr gründlichen Chemie- und Anatomiekenntnisse und sein umfassendes Wissen aus der Kriminalstatistik. Das sind alles absolute Pflichtfächer für einen Meisterdetektiv. Genau wie das Buch über die Analyse von Zigarrenasche, das Holmes geschrieben hat.
Nein, es ist Holmes' Fähigkeit, beispielsweise vom Aussehen eines Besuchers auf dessen Beruf, seinen Lebensweg und beinahe alle anderen Umstände seiner Existenz zu schließen.
Wie macht Holmes das? Wie kann er beim Anblick eines Mannes sagen, daß dieser ein ehemaliger Marinesergeant ist?
"Elementary, my dear Watson", also "Alles ganz einfach", erklärt der Meister seinem Adlatus in seiner etwas herablassenden Meisterdetektivmanier.

"Schon über die Straße hatte ich den blauen tätowierten Anker auf der Hand des Mannes gesehen und die See gewittert; zudem bemerkte ich seine militärische Haltung, und das verriet mir dem Marinesoldaten. Er trug den Kopf hoch und schwang seinen Stock mit Selbstbewußtsein und einer gewissen Befehlshabermine; dabei trat er fest und würdevoll auf und war ein Mann in mittleren Jahren - natürlich mußte er Sergeant gewesen sein."

"Wunderbar", sagt Watson.
"Höchst alltäglich!", erklärt Holmes. Eben "elementary". Das Beobachten der kleinen Dinge, das Herstellen von logischen Zusammenhängen, die Deduktion und das Kombinieren dieser Beobachtungen mit einem profunden Wissen über die Wirklichkeit - eben all das, was einen echten Meisterdetektiv ausmacht - ob er nun Sherlock Holmes oder später Hercule Poirot, Pater Brown oder Lord Peter Wimsey heißt - diese Kunst der logischen Schlussfolgerung ist das Kennzeichen, das die Detektivgeschichten einer ganzen Generation prägte.

Dem Erfolg von Sherlock Holmes am Beginn des 20. Jahrhunderts folgte nach dem Ersten Weltkrieg das sogenannte "goldene Zeitalter" des britischen Kriminal- bzw Detektivromans - eine Epoche, mit der bis heute überwiegend die Namen von zwei Autorinnen verbunden sind: Dorothy Sayers und Agatha Christie.
Dorothy Sayers (1893 - 1957) - eine der ersten Frauen, die Oxford studierten, erfand den kriminalistisch ambitionierten Lord Peter Wimsey und auch dessen Freundin und spätere Gattin Harriet Vane. Gleich im ersten Fall ("Ein Toter zuwenig") lernt der Adelige die unter Mordverdacht stehende Harriet kennen - und lieben. Also verbindet er seine romantischen Ambitionen - um Harriet zu werben - mit der kriminalistischen Aufgabe, ihre Unschuld zu beweisen.

Agatha Christie (1890 - 1976) war die eher pragmatischere und literarisch auch leichtfüßigere der beiden britischen Krimi-Ladies, die mit ihrem Konzept des Tüftel- und Ratekrimis für lange Zeit das Bild des Genres prägten.
Kriminalromane dieser Zeit, die man heute gern als COZIES bezeichnet, stellten neben einer möglichst charismatischen oder bisweilen auch aufdringlich skurrilen Ermittlerfigur vor allem das Rätsel in den Fokus ihres erzählerischen Interesses. Sie inszenieren ihre Geschichten überwiegend als intellektuelles Duell nicht nur zwischen dem Täter und dem Ermittler, sondern auch dem Autor und seinen Lesern - indem sie die Fiktion aufbauen, dass man sich als Leser der Detektivgeschichte idealerweise stets auf Augenhöhe mit der Detektivfigur befindet und somit auch durch eine genaue Analyse der gezeigten Informationen und Indizien gemeinsam mit dem Ermittler dem Täter auf die Spur kommen könnte.
Doch freilich ist das alles nicht so "elementary, my dear", wie Holmes so gerne formulierte, denn die Autorinnen spielten natürlich mit ein wenig gezinkten Karten, indem sie die entscheidenden Hinweise geschickt versteckten oder sie erst nach und nach präsentierten, so dass man ihnen eigentlich nur auf die Spur kommen konnte, wenn man neben der Lektüre des Romans auch selbst noch so etwas wie eine Ermittlungsakte mit Alibi-Angaben und Indizien führte.
Nur wenige Autoren - wie etwa die eben erwähnte Agatha Christie und vor allem Dorothy Sayers waren intelligent genug, diese sogenannten Regeln des Genres nicht als Gesetze, sondern eher als Grundlinien zu betrachten und sich in ihren Werken darum zu bemühen, sie möglichst phantasiereich zu umgehen, statt sie sklavisch zu befolgen.

In seinem Buch "DAS ZEITALTER DER EXTREME - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" (London 1994, München 1995) schreibt der britische Historiker Eric Hobsbawm über den Aufstieg des Krimi-Genres von der Kurzgeschichte zur Romanform:

"...Die Künste (oder besser: die Unterhaltung), die erfolgreich waren, zielten mehr auf die breite Masse als auf den traditionellen Geschmack der wachsenden Mittel- bzw. unteren Mittelschicht... Die interessanteste Entwicklung in diesem Refugium des Normalverbrauchers war das außergewöhnliche und explosive Wachstum eines Genres, das zwar bereits vor 1914 einige Lebenszeichen von sich gegeben hatte, aber niemals erahnen ließ, zu welchen Siegeszügen es antreten sollte: die Kriminalgeschichte, die mittlerweile in Buchlänge geschrieben wurde. Im wesentlichen war dies ein britisches Genre – vielleicht als Tribut an Arthur Conan Doyles Helden Sherlock Holmes, der in den 1890er Jahren zu internationalem Ruhm gekommen war.
Als Pionierin galt Agatha Christie (1891-1976), die sich bis heute als Bestsellerautorin verkauft. Auch die internationalen Versionen dieses Genres waren stark vom britischen Vorbild inspiriert. Es handelte fast immer von Mordgeschichten, die wie eine Art von Salonspiel aufgebaut waren, das von den Mitspielern einigen Scharfsinn erforderte...
Im Grunde war dieses ganze Genre wohl eine seltsame Art von Beschwörungsformel für ein bedrohtes, aber noch nicht zerstörtes Gesellschaftssystem (das der Vorkriegszeit – Anm. d.A.). Mord, das zentrale und oft einzige Verbrechen, mit dessen Aufklärung der Detektiv beauftragt wurde, bricht in eine charakteristische geordnete Umwelt ein – ein Landhaus oder eine vertraute berufliche Umgebung – und wird bis zu einem jener verkommenen Subjekte zurückverfolgt, das letztlich nur die Bestätigung für die Unversehrtheit des Rests der Welt war. Recht und Ordnung wird mittels Vernunft und Logik wiederhergestellt, die der Detektiv zu Lösung des Problems einsetzt.
Der Detektiv selbst (fast immer ist es ein Mann) repräsentiert die Gesellschaftsschicht des sozialen Umfelds, in dem der Krimi spielt, worauf vielleicht auch die Betonung auf Privatdetektiv resultierte, denn für einen Polizisten wäre es ungewöhnlich gewesen, Mitglied der Ober- oder Mittelschicht zu sein.
Eric Hobsbawm:
Das Zeitalter der Extreme, Aus dem Engl. von Yvonne Badal, München: Hanser, 1995, S. 246f



Das Ende dieses goldenen Zeitalters wird von dem Sprung des Krimis über den Atlantik in die neue Welt markiert. In dem vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts schrieben dort Autoren wie Raymond Chandler (1898 - 1959), Dashiell Hammett (1894 - 1961), James M. Cain (1892 - 1977) oder Erle Stanley Gardner (1889 - 1970) wiederum für ein Massenmedium ganz andere Kriminalgeschichten als jene, die im guten alten England so beliebt waren.
PULP heißt der zentrale Begriff in der Geschichte des amerikanischen Krimis - PULP ist abgeleitet von PULPE, einem Begriff aus der Papierverarbeitung. PULP ist die Masse aus Holzfasern, dem sogenannten Holzschliff, aus dem das Papier für den Zeitungsdruck und eben für billige, massenhaft gedruckte Magazine mit Unterhaltunsgeschichten hergestellt wird. Die Krimis, die in diesen Magazinen veröffentlicht wurden, waren genau so, wie dieses Papier: rau, etwas brüchig, grob und nicht für die Ewigkeit gemacht, sondern für die schnelle Unterhaltung zwischendurch. Kein Wunder, dass PULP schließlich zum Synonym für eine bestimmte Art von Literatur wurde - eben die PULP-FICTION, auf die sich dann fast ein halbes Jahrhundert später Quentin Tarantino im Titel seines Kultfilms bezog.

In den Stories die die amerikanischen Krimi-Autoren für die PULP-Magazine wie etwa das legendäre "Black Mask" verfassten, übernahmen sie teilweise die Heldenfiguren des amerikanischsten aller Genres, des Western, und versetzten sie in die urbane Umgebung von Los Angels, von San Francisco oder New York.
Statt in der statischen und von Traditionen beengten britischen Umgebung bewegten sich die Helden der Krimis jetzt in einer offenen, sich erst im Prozess der Konstitution befindlichen Gesellschaft. PULP-Stories, aus denen sich in nur wenigen Jahren die großen Klassiker des amerikanischen Krimis entwickelten, waren weniger rätsel- als handlungsorientiert: hier ging es, übertragen gesprochen, nicht darum, zu erkennen, dass er Besucher mit den Tätowierungen, der dem Detektiv gegenübersteht, ein ehemaliger Marinesergeant war, hier ging es eher darum, dem Kerl mit angemessenem körperlichen Einsatz eine Information abzuringen oder einfach nur darum, zu verhindern, dass der Kerl einem den Schädel einschlug, weil er für irgendeinen Gangsterboss arbeitete, dessen Kreise der Detektiv bei seinen Ermittlungen gerade gestört hatte.

Statt der intellektuellen Herausforderung zählte jetzt also eher die körperliche - und die beengte Statik des britischen Landhauses wurde ersetzt vom der Mobilität im urbanen Kosmos.

Und auch literarisch kehrt sich der amerikanische Kriminalroman von seiner britischen Mutter ab, indem er sich von der erzählerische Methode des Rätselspiels abwendet, mit dem man im konservativen England seine Leser zu fesseln versuchte. Stattdessen wird "Spannung" - suspense - zum zentralen Anliegen des Autors - und Spannung erzeugt sich am besten dadurch, dass man Geschichten von Menschen mit unterschiedlichen Zielen erzählt. Raymond Chandler bringt es in einem Verriß von Agatha Christies "Ten little Niggers" auf den Punkt, den er in einem Brief an seinen Kollegen George H. Coxe schreibt. Nachdem er Christies Konstruktion des Romans auseinandergenommen und generell als unfair gebrandmarkt hat, meint er:

Aber ich bin doch sehr froh, das Buch gelesen zu haben, weil es endgültig und für immer eine Frage in meinem Kopf geklärt hat, bei der mich zumindest doch immer noch einige Zweifel bedrängten. Die Frage nämlich, ob es möglich ist, einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus zu schreiben. Es ist nicht möglich. Um die nötigen Komplikationen herzustellen, fälscht man die Hinweise, den Zeitplan, das Zufallsspiel und nimmt als Gewißheit an, was höchstens 50 Prozent Möglichkeit enthält. Damit der Mörder am Ende eine Überraschung wird, fälscht man den Charakter, was mich am empfindlichsten von allem trifft, da ich für Charakter ein feines Gespür habe.
Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes, Hrsg. von Dorothy Gardiner u. Kathrine Sorley Walker. Neu übersetzt von Hans Wollschlaäger, Zürich: Diogenes, 1975, S. 50

Das ist also in Umrissen die Situation, als der Kriminalroman etwas mehr als zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Person von Jerry Cotton wieder nach Deutschland kommt.
Der zentrale Bezugspunkt für Jerry Cotton ist in der Zeit, in der die Bundesrepublik gerade erst von den Alliierten auf den Weg eines demokratischen Rechtsstaates gebracht wird, mit einiger Folgerichtigkeit die Heimat der Befreier - New York. Die Methoden im Kampf gegen das Böse ähneln allerdings immer noch sehr dem Häuserkampf aus Kriegszeiten:

Die Maschinenpistolen ballerten (...) los. Die Scheiben zersplitterten an dem Wagen. Gellend klatschten die Kugeln auf das Blech. Mit lautem Knall zerplatzten die beiden Vorderreifen. Näher und näher tasteten sich die Garben der Gangster an uns heran. Sie mussten weg vom Wagen, ob sie wollten oder nicht. Schon zerknallte der rechte Hinterreifen. Zu allem Überfluss schoss plötzlich eine Stichflamme aus dem Auto hoch. Ein Funke hatte das auslaufende Benzin entzündet. Im Handumdrehen stand die Karre in lodernden Flammen. Hitze und Kugeln zwangen die Verbrecher sich zurückzuziehen. Hilflos standen sie mitten auf der Straße. Der Mondschein und das flackernde Licht des brennenden Autos machten sie geradezu zu Zielscheibe. Drei waren noch übrig. Die Nacht war so hell, dass ich erkannte, wie die 'Ratte' ein neues Magazin in die Pistole stieß.
Jerry Cotton: Ich zahlte mit Falschgeld
Jerry Cotton Classic Band 81, 2007
(Erstveröffentlichung als Bastei-Kriminal-Roman Nr 75, 1954)


Damit war der Kriminalroman also wieder in Deutschland - als Pulp-Geschichte, als Massenliteratur, mithin genau in der Form, in der er in seinen beiden Geburtsländern seine größten Erfolge gefeiert hatte. Und dass Jerry Cotton im vergangenen Jahr mit seinem Abenteuer Nummer 2500 seinen 50sten Geburtstag begehen konnte, belegt, dass Krimi und billige Massenauflagen immer noch eine klassische Win-Win-Konstellation darstellen.

Der Cotton der fünfziger Jahre war der deutsche Traum vom amerikanischen Krimi - und er prägte neben den angelsächsischen Cozies für lange Zeit das Bild der Kriminalliteratur im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik, von dem sich das sozialistische Wunderland DDR abgetrennt hatte. Dort wurde auch Kriminalliteratur geschrieben und veröffentlicht - aber das war eine ganz andere Art von Krimis - und ist deshalb auch eine ganz andere Geschichte.

Der frühe Cotton ist genau der Held, den die Wirtschaftswunderrepublik brauchte - ein autoritätshöriger Schlagdrauf, der das "Wir-haben-doch-alle-nur-unsere-Befehle-befolgt!" der Nachkriegsjahre auf sein Verhältnis zu seinem Chef Mr High überträgt. Er ist ein wahrscheinlich latent homosexueller Buddy für seinen Kumpel Phil Decker, mit dem er sich in der Frühzeit der Serie auch schon mal ein Appartement teilt. Und er definiert sich durch des Deutschen liebstes Kind: sein Auto, den roten Jaguar E-Type, in den sechziger Jahren der feuchte Traum nahezu jedes deutschen Autobahnbenutzers.

Es sollte mehr als zehn Jahre dauern, bis sich die deutschen Krimi-Autoren davon lösen konnten, einfach nur britische oder amerikanische Krimis nachzumachen und nachzuschreiben und es in der Bundesrepublik zu einer Neugeburt des Krimis kam.
Aus dem Ludwig-Erhard Land des Wirtschaftswunders musste erst das Kurt-Georg Kiesinger-Land werden, in dem die ersten Studenten auf die Straßen gingen und gegen den "Muff von tausend Jahren" unter den Talaren protestierten, und aus dem Kiesinger-Land musste 1969 erst Willy-Brandt-Land werden, um die Voraussetzungen für einen "neuen deutschen Krimi" zu schaffen - der eigentlich auch der erste deutsche Krimi sein sollte, also ein Krimi, der seine Schauplätze und Themen in der deutschen Wirklichkeit fand und seine Geschichten nicht nach England oder Amerika oder einfach ins Irgendwo des Unterhaltungsromans verlegte.

Der neue deutsche Krimi wurde in einer gelben Villa am Rand von Reinbek geboren. Dorthin hatte der Rowohlt-Verlag sein Krimi-Lektorat ausgelagert, und hier hatte der Herausgeber der schwarzen rororo-thriller Reihe - Richard K. Flesch - als einer der ersten in Deutschland damit begonnen, den internationalen Kriminalroman Ernst zu nehmen. Denn "Krimi" bedeutete im Verständnis der Verlage im Wirtschaftswunderland neben den Romanheften, in denen Jerry Cotton und seine Kollegen ihre Abenteuer erlebten, eigentlich nur Edgar Wallace (von dem es angeblich unmöglich war, nicht gefesselt zu sein), und Agatha Christie. Krimi war vor allem verlagstechnisch gesehen höchstens ein Taschenbuch mit 150 oder 180 Seiten. Ein Taschenbuch in einer "Krimi-Reihe", die jede Individualität von Autoren und Romanen mit seriellen Titelbildern konterkarierten - Titelbilder, die harte Männer mit kantigen Gesichtern und großen Pistolen im Körperkontakt mit dürftig bekleideten Damen zeigten. Ja, natürlich: Krimi war Massenliteratur, eben PULP. Kein Wunder, dass man damals Krimis eher im Bahnhofsbuchladen als in einer "ordentlichen" Buchhandlung kaufen konnte.

Richard K Flesch in der gelben Villa in Reinbek hatte sich, anders als seine Lektoren-Kollegen in anderen Verlagen, nicht dem Motto der Adenauer-Ära verschrieben - "Keine Experimente!".
Er sah sich auf der internationalen Krimi-Szene um, wählte neue Autoren aus, nahm Trends auf. Durch und mit ihm kamen nicht nur Autorinnen wie Patricia Highsmith zu den ihnen angemessenen sorgfältigen Übersetzungen und vollständigen Veröffentlichungen, auch die französischen Psycho-Spezialisten Boileau und Narcejac fanden in der Reihe der schwarzen rororo-thriller ihre Heimat.
Und schließlich auch ein Autorenteam aus Schweden - eine Lyrikerin und ein Journalist, die sich zusammengetan hatten, um einen zehnbändigen Zyklus über einen Polizisten und seine Kollegen in Stockholm zu schreiben. Die Lyrikerin hieß Maj Sjöwall, der Journalist Per Wahlöö, und der Polizist, dessen Lebens- und Berufsweg sie von 1965 bis 1975 in zehn Büchern verfolgten, hieß Martin Beck.

"Roman über ein Verbrechen" hatten die beiden ihre Dekalogie übertitelt - und damit ein großes, ein gesamtes Verbrechen in und an der schwedischen Gesellschaft gemeint. Ein Verbrechen, das Soziologen und Politologen, die keine Krimis lesen, gern unter dem Begriff "strukturelle Gewalt" zusammenfassen. Strukturelle Gewalt, das ist nach der Definition des Politologen Johan Galtung "...die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist„ (Wikipedia), also mithin fast alles, was den Menschen in seiner individuellen und gesellschaftlichen Entfaltung behindert: Diskriminierung wegen Rasse, Geschlecht oder Glauben, die ungleiche Verteilung von Bildungs- und Einkommenschancen oder sogar Umweltverschmutzung.

Das "Böse", das Martin Beck und seine Mannschaft bekämpfen, personifiziert sich also nicht in dem einzelnen Täter der Kriminalgeschichte, der am Ende jedes Romans ermittelt wird, sondern es liegt tiefer, ist Teil dieses "großen Verbrechens" das der Staat, die Politik und der Militärisch-Industrielle Komplex an dem Menschen begehen. Ein Verbrechen, durch das der Einzel-Täter sozusagen notgedrungen zu dem wurde, was er ist: ein Verlierer, ein Opfer der Verhältnisse und Umstände

Dieses neue Konzept des Kriminalromans, sozusagen die erste Welle des Schwedenkrimis, traf in der gelben Villa in Reinbek Ende der sechziger Jahre auf eine Reihe damals junger deutscher Krimi-Autoren, die etwas anderes, etwas neues schreiben wollten - weil sie meinten, dass die sich gerade verändernden gesellschaftlichen und politischen Umstände in der Bundesrepublik auch einen "neuen Krimi" verdienten.
*Da war ein junger Soziologe, der gerade an der FU Berlin promovierte, und der sich seinen Lebensunterhalt mit dem Erfinden von Heftchenabenteuern für den Superagenten "John Drake" aufbesserte.
*Da war ein junger Journalist und Gerichtsreporter, der sich ebenfalls seine ersten literarischen Sporen als "John Drake" verdient hatte.
*Da war ein ausgefuchster Kriminalreporter, der es mit seinen Gerichts- und Verbrechensreportagen beim damals noch auflagenstarken STERN zum Ressortleiter gebracht hatte
*Und da war schließlich noch eine junge Frau aus der - sagen wir mal: Werbebranche - die eigentlich Kinder- und Jugendbücher schrieb und sich hin und wieder als "Jerry Cotton" etwas dazuverdiente.

Der Soziologe -- sein Name war und ist Horst Bosetzky, aber bekannt wurde er seinerzeit zunächst einmal unter seinem Kürzelpseudonym "-ky" -- die beiden Reporter Michael Molsner und Friedhelm Werremeier und der weibliche Jerry Cotton Irene Rodrian waren die Viererbande des "neuen deutschen Krimis", mit dem Richard K. Flesch in seiner thriller-Reihe den gesellschaftlichen Umbruch seit Beginn der 70er Jahre in Willy-Brandt-Land begleitete.
Ihre Krimis trafen punktgenau auf den Zeitgeist – Studentenbewegung und Ulrike Meinhof, antiautoritärer Kindergarten, Anti-Psychiatrie, Befreiung der Heimzöglinge. Krimis hatten plötzlich „gesellschaftskritisch„ zu sein – viele Kritiker und Franzosen sehen das noch heute so: das Verbrechen wird entindividualisiert, es gibt keinen Täter mehr.

Natürlich streitet bis heute jeder dieser vier und auch alle anderen zum "neuen deutschen Kriminalroman" gerechneten Autoren ab, dass er (oder sie) bewusst auf das Modell des später so genannten "Sozio-Krimis" hingeschrieben habe, und das schon gar nicht unter dem Einfluss der beiden Vorzeige-Schweden Sjöwall und Wahlöö - natürlich hat jeder Autor seinen ganz persönlichen Zugang zu seinen Geschichten gewählt und gefunden. Doch wenn man sich in ihren Romanen auf die Suche nach Indizien macht, fällt auch ohne große literaturwissenschaftliche Forensik das immer wiederkehrende Modell das Täters als Opfer der Umstände auf. Wie etwa bei dem Plotentwurf zu "Es reicht doch, wenn nur einer stirbt" vom -ky alias Horst Bosetzky, dessen Story auf dem Klappentext so angerissen wird:

Dreiundzwanzig Oberprimaner und Oberprimanerinnen des Albert-Schweitzer-Gymnasiums der niedersächsischen Kleinstadt Bramme und ihr Lehrer, Oberstudienrat Dr. Jentschurek, starren den milchkaffeefarbenen jungen Mann entgeistert an, der vor ihnen steht. Mit einer Pistole in der einen und einer selbstgebastelten Bombe in der anderen Hand.
Die meisten kennen ihn. Von der Volksschule her, und weil ein Mulatte in einem Ort wie Bramme bekannt ist wie ein bunter Hund. Und alle wissen, wovon er spricht: Von der Fahrerflucht-Affäre, die vor drei Wochen passiert ist; das Brammer Tageblatt hat ausführlich darüber berichtet. Bertie Plaggenmeyer hatte seine Braut, die Bibliothekarin Corinna Voges, am späten Abend zur Bushaltestelle begleitet. Beim Überqueren der Straße war sie von einem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Wagen erfaßt worden. Der Fahrer hatte nicht angehalten, und das Mädchen war kurz darauf ihren Verletzungen erlegen.
Nach den Aussagen, die Bertie Plaggenmeyer machen konnte, hatte die Polizei zunächst ermittelt, daß es sich entweder um den Wagen des Schrotthändlers Bleckwehl gehandelt haben mußte oder um den von Dr. Carpano, Chefarzt am Kreiskrankenhaus. Beide fahren den gleichen Mercedes-Typ, und die Kennzeichen sind sehr ähnlich.
Aber dann hatte Bleckwehl ein einwandfreies Alibi gehabt und Carpano immerhin einen völlig unbeschädigten Wagen. Die Untersuchung hat sich damit festgefahren. Die Fahndung läuft, aber sie läuft leer; damit muß man sich abfinden in solchen Fällen.
Plaggenmeyer findet sich nicht damit ab.
Herbert Plaggenmeyer, Hilfsarbeiter und unehelicher Sohn eines farbigen US-Soldaten und einer deutschen Mutter - Herbert Plaggenmeyer hat im Laufe seines 22jährigen Lebens gelernt, der Polizei, der Justiz und der Gesellschaft schlechthin zu misstrauen. Jetzt hat er zu dem Mittel der Geiselnahme gegriffen, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen:
Im Austausch gegen das Leben von dreiundzwanzig Oberprimanern und ihres Lehrers verlangt er, daß der Mann, der Corinna Voges' Tod verschuldet hat, seine Tat eingesteht und bestraft wird.
Klappentext zu
-ky: Es reicht doch wenn nur einer stirbt, Reinbek: Rowohlt, rororo thriller 2344, 1975



Das Misstrauen gegenüber Polizei, Justiz und Gesellschaft und das Gefühl, wehrlos den Machenschaften des Kapitals, oder besser noch: des Groß-Kapitals, ausgeliefert zu sein, liefern nicht nur die Grundierung für die Studentenproteste und den gesellschaftlichen Umbruch der siebziger Jahre in Willy-Brandt- und Helmut Schmidt-Land, sie sind auch - oder deshalb ? - die Folie, auf der der neue deutsche Kriminalroman seine Geschichten erzählt - mit den literarischen Mitteln und Methoden, die seine Autoren als Verfasser von Pulps oder Illustriertenstorys gelernt haben: Spannung und Aktion, ein wenig Rätsel, eingebettet in einen realistischen Zugriff auf die Wirklichkeit.

Aber es gab in jener Zeit - natürlich - auch im Krimi das Beharrungsvermögen des gerade wieder restaurierten Bürgertums - und das manifestierte sich im gerade groß in Mode gekommenen zweiten Massenmedium: dem Fernsehen. Seit 1961 leistet sich das Wirtschaftswunderland mit der Gründung des ZDF den Luxus von zwei Fernsehprogramme, und beide produzierten Kriminalunterhaltung. In der ARD waren es neben den klassisch-weltfremden Geschichten des Briten Francis Durbridge die eher realistisch angehauchten Episoden der Serie STAHLNETZ - geschrieben von dem ehemaligen Reporter Wolfgang Menge und inszeniert von dem kürzlich verstorbenen "Altmeister des deutschen Fernsehkrimis", Jürgen Roland, der genau wie sein Drehbuchautor eine journalistische Vergangenheit hatte - als Polizei- und Kriminalreporter in Hamburg.
"Dieser Fall ist wahr!" hieß es vor jeder Episode.
"Er wurde aufgezeichnet nach den Unterlagen der Kriminalpolizei. Nur Namen von Personen, Plätzen und die Daten wurden geändert um Unschuldige und Zeugen zu schützen."


Das war natürlich nur eine vorgespielte Au-then-ti-zi-tät, nicht anders als in dem amerikanischen Serienvorbild "Dragnet", aus dem man praktischerweise auch gleich die Titelmusik gestohlen--- pardon: übernommen hatte. Als These und natürlich erst aus der Rückschau könnte man formulieren: Mit der "echt wahren" Polizeiarbeit, die hier gezeigt wurde, sollte vor allem vermittelt werden, dass man in der Bundesrepublik wieder in einem Rechtsstaat lebte, in dem man sich auf die Organe der Exekutive wieder verlassen konnte.
Ähnlich semi-realistisch und staatstragend gab sich im ZDF das "Kriminalmuseum", in dem genau wie im STAHLNETZ Kriminalbeamte - die Betonung lag bei beiden Serien deutlich auf BEAMTE - das Böse jagten.

Trifft man heute in irgendeinem öffentlich-rechtlichen Nachtprogramm auf Wiederholungen dieser Fernseh-Krimis aus den siebzigern, entdeckt man Volkswagen-Käfer, in denen Polizisten in schlechtsitzenden Uniformen Streife fahren und über einen Telefonhörer am Armaturenbrett mit ihrer "Zentrale" reden.
Oder man sieht sich Herren in dunklen Mänteln gegenüber, die in düsterem Ambiente sturzbetroffen um eine Leiche herumstehen, bis der kleinste von ihnen sagt: "Rehbeinchen, mach mal ein Protokoll!"
Rehbeinchens Chef war der Übervater der Fernseh-Kommissare der siebziger: Erik Ode alias "Der Kommissar" Herbert Keller aus München, der im Januar 1969 seinen ersten Fall löste: "Toter Herr im Regen".
Dieser Kommissar Keller war einer, der noch den Krieg mitgemacht hatte und deshalb seine Männer im Offizierston herumkommandieren konnte:
*Grabert, der amerikanisierte Sunnyboy,
*Heines, der gesichtslose Technokrat und natürlich
*Harry Klein alias Fritz Wepper, der nach seinem Einsatz in Bernhard Wickis Antikriegsfilm "Die Brücke" (1959) nur noch schnell die Mittlere Reife gemacht zu haben schien, ehe er in Kellers Team als Telefonhörerabnehmer antrat.
"Der Kommissar" war ein Geisteskind des 1914 geborenen Herbert Reinecker, der 1936 die Zeitschrift "Jungvolk" redigiert hatte und der nicht nur mit dem "Kommissar" einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren Deutschlands wurde. Vor dem "Kommissar" waren ihm etliche Episoden für das "Kriminalmuseum" und für die Spionage-Serie "Die fünfte Kolonne" aus der Feder geflossen, ebenso wie zuvor die Vorlagen zu Kino-Krimis und Liebesromanzen.
Reineckers "Kommissar" war so nachkriegs- und wirtschaftswunderdeutsch wie Michael Holms "Barfuß im Regen" oder "Schön ist es, auf der Welt zu sein" von Roy Black und Anita.
Keller war Polizist und als solcher wie gesagt: Beamter - nicht zu vergleichen mit seinem amerikanischen Kinokollegen "Dirty Harry" Callahan oder dem "Popeye Doyle" aus "French Connection I", die zur gleichen Zeit den Kampf gegen das Böse höchstpersönlich nahmen.
Als Polizist und Beamter bekam Keller es mit Groß- und Kleinbürgern zu tun, die sprachlos auf den Toten starrten, der da vor der Schrankwand mit der Goethe-Gesamtausgabe und dem Großem Brockhaus lag. Oder brutal niedergestreckt in der Toreinfahrt eines - natürlich - übel beleumundeten Nachtclubs, in dem die Nackttänzerinnen den BH immer erst abnahmen, nachdem die Kamera sie in die Unschärfe gezogen hatte.
Keller war einer, dem seine Assistenten den Telefonhörer hinhielten ("Für Sie, Chef!"), dem sie die Büro- und Autotüren aufmachten und den sie bodyguardmäßig umschwärmten, wenn er dem Besitzer des übel beleumundeten Nachtclubs Auge in Auge gegenübertrat.

Das "Böse", das Kommissar Keller und auch später sein Nachfolger Stephan Derrick regelmäßig am Freitagabend in 60 Minuten aus der Welt schafften, hatte nichts, aber auch gar nichts mit der "strukturellen Gewalt" zu tun, mit der sich der "neue deutsche Krimi" befasste. Böse Menschen würden sogar sagen: sie waren ein Teil davon.
Herbert Reineckers Kommissar Keller war der menschelnde Alltagsphilosoph, der im Büro als Patriarch seiner Ersatzfamilie mit Rehbeinchen als duckmausiger Frau und seinen drei Söhnen vorstand - ein Modell, das sicher nicht zufällig an die Restfamilie Cartwright von der Ponderosa-Ranch erinnerte.

Das Böse wohnte in der Welt des Kommissar Keller in Kneipen, die man damals noch "Spelunken" nennen durfte, in Nachtclubs und später Discotheken - samt und sonders Lebensräume zwielichtiger Gestalten, die Geschäfte mit Drogen oder leeren Versprechungen machten, die junge naive Menschen verführten und gutgläubige alte betrogen. Das Böse wohnte aber ganz besonders in geräumigen großbürgerlichen Villen und erhob sein Haupt als Familienkonflikt: Streit und Neid und Eifersucht, Hass und Intrige in der Kernzelle der Republik.
Wenn der Kommissar dann doch einmal mit der gesellschaftlichen Realität draußen vor seinem Fernsehstudio konfrontiert wurde, dann wurde der Bezug strikt in das schwarz-weiß-Schema seiner Gut-und-Böse-Welt eingewebt, wie der Inhalt der Episode "Der Papierblumenmörder" zeigt, in dem es um die von der bundesdeutschen Gesellschaft in den siebzigern nicht so geschätzten Blumenkinder, vulgo: Hippies - geht:

In den Isarauen wird ein junges Mädchen erschossen. Passanten kommen Sekunden zu spät und können den Schützen nicht mehr erreichen. Bei dem Versuch zu helfen verwischen sie sämtliche Spuren. Die Kriminalpolizei erfährt nur durch Zufall, dass das getötete Mädchen vor einiger Zeit aus einem Erziehungsheim ausgebrochen ist und in Münchner Hippiekreisen verkehrte. Harry Klein erhält die Aufgabe, in diesem Milieu den Mörder zu suchen. In Verdacht gerät allerdings ein angesehener Mann, der dem verwahrlosten Mädchen nicht nur Blumen geschenkt hatte.
Der Kommissar: Der Papierblumenmörder, Inhalt, 16.1.1970
Quelle: www.derkommissar.de



In einem anderen, aber nichtsdestotrotz passenden Zusammenhang sinniert Kommissar Keller in einem seinem Fälle, der nur als Roman erschien, über sein Verhältnis zu dieser Jugend:

Ich bin ein Gegensatz zu diesen jungen Leuten, sagte er sich und nahm diesen Satz wie eine Feststellung, wie eine Zahl in einer Rechnung. Warum bin ich ein Gegensatz. Die Antwort gab er sich sehr schnell: ich habe ein anderes Leben geführt, mein Leben war bestimmt von Erfahrungen, einigen schrecklichen darunter. Der Krieg. Das Wort blieb hängen, er wiederholte es: Der Krieg. Ja, wie, dachte er plötzlich, sollte es möglich sein, daß man an so etwas wie Krieg in Dankbarkeit zurückdenken kann?"
Herbert Reinecker, Die Mädchen von Café Leopold, Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, Reihe "Der Kommissar" Band 35011, S.88

Nur ein wenig verschoben aber im Grunde genommen genau so klar verlaufen die Fronten zwischen Gut und Böse in dem zweiten Krimi-Klassiker der Siebziger Jahre, als aus dem Willy-Brandt-Land das Helmut-Schmidt-Land wurde, und der mit 281 Folgen bis Ende 1998 das Programm des ZDF bereicherte.
Stephan Derrick alias Horst Tappert (oder umgekehrt, so genau weiß man es nicht), übernahm vom "Kommissar" nicht nur Herbert Reinecker als Drehbuchautor, sondern auch Fritz Wepper als Harry Klein und führte uns sicher bis fast ans Ende des letzten Jahrhunderts - er begleitete den Übergang von Helmut-Schmidt-Land zu Helmut-Kohl-Land und war sicherer Indikator für alle modischen Verirrungen seiner Zeit: Derrick trug Brillen mit verlaufsgetönten Tropfengläsern, die heute noch nicht einmal mehr an Kassenpatienten ausgegeben werden; er geisterte jahrelang in einem unförmigen Ledermantel durch die Szenen, in dem er wie ein MIR-Kosmonaut wirkte, und anhand der Breite der Revers' von Harrys Jacketts und der Farbe seiner Hemden kann man heute zielsicher das Produktionsjahr jeder Episode ermitteln.
Überhaupt gibt es auch einige Theorien, dass es eigentlich niemals die beiden Serien "Der Kommissar" und "Derrick" gab, sondern nur eine einzige, nämlich "Harry Klein".
Nomen est omen?
Harry, der Kleinbürger, der Mann aus der zweiten Reihe, treuer Telefonhörerabnehmer ("Für dich, Stephan!") und Türenöffner ("Komm, Stephan!"), eine Ikone der Pflichterfüllung und Selbstverleugnung, dessen Altern wir über fast dreißig Jahre verfolgen konnten. Harry Klein, der deutscheste unter allen Kommissaren: der ewige Beamte.

Als Beamter im Polizeidienst hat der Held in dieser Art von Krimi weder als Roman- noch als Fernsehfigur ein Problem mit der Grenzziehung zwischen Gut und Böse. Kommissar Keller und Inspektor Derrick sind kaum angekränkelt von den Sebstzweifeln, unter denen ihr schwedischer Kollege Martin Beck und auch der aktuell populäre Krimi-Schwede Kurt Wallander von Roman zu Roman mehr zu leiden haben.
Ihr Dienstgrad genügt ihnen als Selbstrechtfertigung: sie sind ein Organ der Exekutive, sie sind Sachbearbeiter der Paragraphen 211f des Strafgesetzbuches, das ihre Gegenspieler so definiert:

Mörder ist, wer
-aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
-heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
-um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
- einen Menschen tötet.
STGb § 211

Damit ist der beamtete Kommissar auf der sicheren Seite, nämlich auf der des Staates, dessen Gewaltmonopol er ausüben darf, wenn es dann am Ende hart auf hart kommt, worauf er aber zumindest in den Fernsehkrimis im Vorabendprogramm meistens verzichtet.
Heißt das also, dass das Gute im Krimi immer siegt, weil es das Gesetz auf seiner Seite hat?
Nicht unbedingt.
Der Fernsehkommissar siegt, weil er sich selbst nicht nur beamtenrechtlich und juristisch auf der richtigen Seite weiß, sondern auch moralisch. Er siegt als Vertreter für uns alle, für die jeweils gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung mit allen ihren geschriebenen und ungeschriebenen Regeln und Übereinkünften.

Im britischen Kriminalroman des Goldenen Zeitalters war der Detektiv als Privatmann unterwegs, weil ein Polizeibeamter kaum Zugang zu den Kreisen gefunden hätte, in denen die Autorinnen ihre Mordfälle inszenierten: den höheren Ständen, dem Adel, dem Möchtegern-Adel und dem Großbürgertum. Die Kriminalgeschichte funktionierte als Selbstvergewisserung ihres Publikums über die eigene Situation. Nach den Wirren des Ersten Weltkrieges wurde bei den Briten Recht und Ordnung von Hercule Poirot, Lord Wimsey und Konsorten mittels Vernunft und Logik wiederhergestellt - genau so, wie es ein halbes Jahrhundert später Kommissar Keller und Stephan Derrick in Deutschland taten.
In beiden Fällen sind die Ermittler Angehörige des Systems, das sie stabilisieren sollen - der noble oder skurrile britische Detektiv und der deutsche Beamte. Wenn sich einer von ihnen überhaupt einmal so etwas wie Selbstzweifeln hingibt, dann tendiert das schnell zum Zynismus. Man muss im umfangreichen Gesamtwerk von Herbert Reinecker lange suchen, bis man auf eine Stelle wie diese stößt, in der Kommissar Keller sich so seine Gedanken über seinen Beruf macht:

"Mein ganzes Leben lang habe ich nur im Müll herumgekramt, im menschlichen Abfall. Da verliert sich der Glaube, daß es überhaupt noch etwas Unversehrtes gibt."
(Reinecker, Die Mädchen vom Café Leopold. a.a.O., S.58)

Das, was sich bei Keller als Ekel vor dem Mitmenschen artikuliert, äußert sich bei den Ermittlern des "neuen deutschen Krimis" grundsätzlich als Selbstekel. Kein Wunder - denn sie sind schließlich als Polizeibeamte selbst ein Teil des staatlichen Repressionssystem, sind Element der "strukturellen Gewalt", mithin Mittäter beim "großen Verbrechen". In einem Roman von Michael Molsner formuliert es ein Polizist, der viel darauf hält, dass er in der Lage ist, sein Leben und seine Arbeit selbstkritisch zu hinterfragen, mit diesen Worten:

Man ist nicht so lange bei der Kripo wie ich und hofft immer noch mit jedem Fall auf ein neues Abenteuer. Unsere Arbeit ist ein öffentlicher Dienst wie die Organisation der Badeanstalten oder die Müllabfuhr. Gewalttäter müssen isoliert und ruhiggestellt werden, damit sie nicht weiter Unheil anrichten -- klar."
Michael Molsner:
Die Schattenrose,
München: Heyne, Blaue Krimis Band 1957, S.42



Persönlicher nimmt seinen Job und sein Leben schließlich nur noch in einem Roman von -ky der ermittelnde Hauptkommissar Mannhardt, wenn ihm sein Autor die bittere Erkenntnis zuschreibt:

Mannhardt hatte alles bis obenhin satt: Lilo, seine Tochter, die ganze Familie. Er sehnte sich nach dem Leben eines kleinen Vertreters, der sein eigenes Leben leben kann. Lieber frei und verloren im schäbigen Hotelzimmer als bürgerlich gefangen im teuren Eigenheim. Nur von allem träumen, das war lustvoll. Es selber leben war lästig. Wenn er doch nur den Mut gehabt hätte, den Käfig zu öffnen und auszubrechen. Was anderes anfangen. Den ganzen Scheiß hier vergessen. Das hielt doch kein Schauspieler aus, sein ganzes Leben lang, Tag für Tag, immer ein und dieselben Rollen spielen: Kriminaloberkommissar und Familienvater."
-ky:
Einer will's gewesen sein,
Reinbek: Rowohlt, rororo-thriller 2441, 1978, S. 17


Bei so einer Einstellung zu Leben und Job bleibt eigentlich nur die innere Kündigung oder der Befreiungsschlag.
Und genau den wagt der erwähnte Kommissar Mannhardt als einer von -kys Serienhelden einige Jahre und Romane später, als er vor dem Schreibtisch seines Chefs steht und versucht, diesen mit einem Mauerstein zu erschlagen.
Mit dieser Szene aus "Friedrich der Große rettet Oberkommissar Mannhardt" endet der "neue deutsche Krimi". Er endet mit der Erkenntnis des Ermittlers, dass er offenbar nicht nur selber ein Teil des Bösen (des großen Verbrechens) ist, sondern dass das Böse offenbar auch in ihm selbst wohnt.
Für einen Paradigmenwechsel fehlte es bei -ky allerdings an der nötigen Konsequenz - nach psychologischer Behandlung und eingehender Therapie taucht Kommissar Mannhardt wieder in -kys Werk auf. Auch privat durchgespült als "neuer Mann" lebt und arbeitet Mannhardt ab Mitte der Achtziger Jahre wieder im Polizeidienst und darf an seinem Heimatort Berlin nahezu alle Varianten und Folgen der Wiedervereinigungskriminalität verfolgen - und natürlich auch darunter leiden, dass man offenbar immer noch nur die Kleinen fängt und die Großen laufen lassen muss.

Nur ein paar Jahre nach dem Ausraster des deutschen Kommissars in Berlin kam aus Amerika dann das Böse in seiner neuen Gestalt endgültig zu uns. Das Böse, das in jedem Menschen selbst wohnt, mithin auch im Ermittler eines Kriminalromans. Wenn also jeder von uns ein Mörder sein kann, der "aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln" einen anderen Menschen tötet - oder sagen wir besser: töten könnte, dann ist folgerichtig auch jeder Ermittler ein potentieller Täter. Nur dass er in der Lage ist, sich zu kontrollieren.
Zugleich wurden die Motive für die Verbrechen - vulgo: die Morde - entindividualisiert, das Ende der klassischen Beziehungstat war im Krimi gekommen, der Serienmörder war als Tätertypus des neuen Thrillers geboren:

Clarice Starling spürte ein frohes Pochen in der Brust und auch eine gewisse Besorgnis.
»Wer ist der Betreffende?«
»Der Psychiater - Dr. Hannibal Lecter«, antwortete Crawford.
Bei jeder zivilisierten Zusammenkunft folgte auf den Namen stets eine kurze Stille.
Starling sah Crawford unverwandt an, doch auch sie schwieg.
»Hannibal der Kannibale«, sagte sie.
»Ja.«
Thomas Harris:
Das Schweigen der Lämmer
(The silence of the lambs, 1988, Deutsch von Marion Dill), München: Heyne, 1990, S.10


Hannibal der Kannibale, bürgerlich Dr. Hannibal Lecter, ist ausgebildeter Psychiater, und bei seinem ersten Auftreten in den wegweisenden Thrillern "Roter Drache" und "Das Schweigen der Lämmer" (1988) des amerikanischen Ex-Journalisten Thomas Harris ist kaum etwas über seine Vergangenheit bekannt - außer dass er wegen verschiedener Straftaten, die ihm seinen Namen einbrachten, von FBI-Agent Will Graham gefasst wurde und nach seiner Verurteilung jetzt im Baltimore State Hospital für geistesgestörte Straftäter einsitzt. Dort hört er gute Musik, schreibt hin und wieder Beiträge für Psychiatrische Fachzeitschriften und beschäftigt nebenbei nicht nur Anstaltsleiter Dr. Chilton und den Anstaltsarzt, sondern auch eine ganze Wachmannschaft, die sich darum kümmert, dass er keinen Kontakt mit anderen aufnimmt oder seiner Neigung nachgehen kann:

»Lecter ist nie außerhalb seiner Zelle, ohne volle Zwangskleidung und ein Mundstück zu tragen«, sagte Chilton. »Ich zeige Ihnen gleich, warum. Im ersten Jahr nach seiner Einweisung war er ein Muster an Kooperation. Die Sicherheitsvorkehrungen um seine Person wurden geringfügig gelockert - dies war unter der vorhergehenden Verwaltung, wohlgemerkt. Am Nachmittag des 8. Juli 1976 klagte er über Brustschmerzen und wurde ins Behandlungszimmer gebracht. Man nahm ihm die Fesseln ab, damit man ihm leichter ein Elektrokardiogramm machen konnte. Als die Krankenschwester sich über ihn beugte, tat er ihr dies an.« Chilton reichte Starling ein Foto mit Eselsohren. »Es gelang den Ärzten, eins ihrer Augen zu retten. Lecter war die ganze Zeit an die Monitore angeschlossen. Er brach ihr den Kiefer, um an ihre Zunge zu gelangen. Sein Puls stieg nie über fünfundachtzig an, selbst dann nicht, als er die Zunge verschluckte.«
Thomas Harris:
Das Schweigen der Lämmer. a.a.O., S. 18


Doktor Lecter ist das personifizierte Böse, und gerade deshalb ist er auch der perfekte Ermittler: denn wer sonst als das Böse selbst weiß, wie das Böse funktioniert. Doktor Lecter ist ein Serienmörder, einer, der nicht aus den klassischen Motiven wie Habgier, Eifersucht oder Hass zu seiner Tat getrieben wird, sondern einer, der den Mord quasi zur schönen Kunst erhoben hat - in seinem Fall zur Kochkunst.

Als Serienmörder bezeichnet die Kriminologie die Täter, die in zeitlichem Abstand hintereinander mehrere Menschen töten - womöglich zur sexuellen Befriedigung, aber womöglich auch "nur" aus rein sadistischen Motiven, so genau hat man das Phänomen auf der wissenschaftlichen Seite noch nicht erforscht. Was den Serienmörder aber vor allem auszeichnet und was ihn zum Liebling der aktuellen Kriminalliteratur gemacht hat, ist die Tatsache, dass es bei seinen Taten in aller Regel zuvor keine persönliche Beziehung zum Opfer gibt.
Mord als Zufallsprodukt also, eine Tat, bei der die klassischen Ermittler mit ihrer Strategie, sich genau in der Umgebung des Opfers umzusehen, vollkommen ins Leere laufen. Serienmorde festzustellen und Serienmörder zu identifizieren wird plötzlich zur logistischen Aufgabe - für die der Ermittler zwar noch so etwas wie kreative Intelligenz aufbringen muss ("Was fällt uns hier auf?"), eine Aufgabe, die dann aber in der Hauptsache mit Datenverarbeitung, mit Computertechnik gelöst werden muss: durch den Abgleich und Vergleich zahlloser datenmäßig erfasster Verbrechen nach einem übereinstimmenden modus operandi, also der Art und Weise und der Begleitumstände, nach denen der Täter jeweils vorgegangen ist. Das Böse - der Mörder - wird nicht mehr im familiären oder sozialen Nahbereich gesucht, sondern in der Gesellschaft, der Gemeinschaft an sich.

Die entscheidende Begegnung, die Stunde der Erneuerung des Krimis und seiner Ermittlerfiguren fand irgendwann 1986 oder 1987 in der geschlossenen Abteilung des Baltimore State Hospital für geistesgestörte Straftäter statt:

Dr. Lecters Zelle lag weit hinter den anderen, blickte nur auf einen Wandschrank auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors und war auch sonst einzigartig. Die Vorderseite bestand aus einer Gitterwand, doch direkt hinter den Gitterstäben, in einer Entfernung, die größer war als die menschliche Reichweite, befand sich eine zweite Schranke, ein vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand gespanntes kräftiges Nylonnetz. Hinter dem Netz konnte Starling einen am Boden festgeschraubten Tisch erkennen, auf dem sich Taschenbücher und Zeitungen stapelten, und einen geraden, ebenfalls festgeschraubten Stuhl. Dr. Hannibal Lecter selbst lag auf seiner Pritsche gestützt und las in der italienischen Ausgabe der Vogue.
Er hielt die losen Seiten in der rechten Hand und legte sie mit der linken nacheinander neben sich. An der linken Hand hatte Dr. Lecter sechs Finger.
Clarice Starling blieb in einiger Entfernung vor dem Gitter stehen, etwa der Länge eines kleinen Foyers entsprechend.
»Dr. Lecter.« Ihre Stimme kam ihr normal vor.
Er sah von seiner Lektüre auf. Eine angespannte Sekunde lang glaubte sie, daß sein Blick summte, doch was sie hörte, war nur ihr Blut.
»Ich heiße Clarice Starling. Darf ich mich mit Ihnen unterhalten?«
Ihre Entfernung und ihr Ton beinhalteten Höflichkeit. Dr. Lecter erwog dies, den Finger gegen die geschürzten Lippen gepreßt. Dann nahm er sich beim Aufstehen Zeit und kam in seiner Gitterzelle mit sanften Bewegungen nach vorn. Ohne das Nylonnetz anzusehen, hielt er jäh davor inne, als würde er die Entfernung selbst wählen.
Sie konnte sehen, daß er klein und geschmeidig war; in seinen Händen und Armen erkannte sie drahtige Kraft.
»Guten Morgen«, sagte er, als hätte er die Tür geöffnet. In seiner kultivierten Stimme schwang ein leichtes metallisches Schnarren mit. Dr. Lecters Augen waren kastanienbraun, und sie spiegelten das Licht in roten winzigen Punkten wider. Manchmal schienen die Lichtpunkte wie Funken in seine Iris zu sprühen. Seine Augen umfaßten Starling ganz. In abgemessener Distanz kam sie näher an die Gitterstäbe heran. Die Härchen auf ihren Vorderarmen stellten sich auf und drückten gegen ihre Ärmel. »Doktor, wir haben ein schwieriges Problem bei der Erstellung psychologischer Diagramme. Ich möchte Sie um Ihre Hilfe bitten.«
Thomas Harris: Das Schweigen der Lämmer, a.a.O., S. 21

FBI-Agent Clarice Starling, die in der Vorstellung des Krimifans seit der Verfilmung des "Schweigens der Lämmer" (1991), für immer wie Jodie Foster aussehen wird, ist bei den Ermittlungen nach einem Serientäter, der intern "Buffalo Bill" genannt wird, an einen toten Punkt angelangt: zu dürftig sind die konkreten Hinweise auf den Täter, zu unverständlich ist seine Vorgehensweise, zu diffus ist alles, was man bisher über diesen Mann zusammengetragen hat, der seine weiblichen Opfer entführt, sie tötet und ihnen dann die Haut abzieht.
Clarice Starlings Besuch bei Hannibal Lecter, der in unserem kollektiven Bewusstsein seither die Züge von Anthony Hopkins trägt, ist die literarische Verdichtung eines Projektes, das der FBI-Agent Robert Ressler mit den Mitarbeitern einer speziellen "Abteilung für Verhaltensforschung" (BSU) zwischen 1970 und 1990 durchgeführt hat. Um -Zitat - "in ihre Seelen einzusteigen und ihr Denken zu verstehen" führten Ressler und seine Kollegen Interviews mit zahlreichen verurteilten Mördern, die eben erkennbar nicht aus Neid, Hass oder Eifersucht, Geldgier und Wut getötet hatten - eben Serientätern. Mit den Erkenntnissen aus diesen Gesprächen war es Ressler und seinen Kollegen dann möglich, bei ähnlich gelagerten Fällen ein sogenanntes "Profil" des Täters zu erstellen - womit ein neuer Typus des Ermittlers geboren war, der des "Profilers".

Der kann - da gleichen sich Wirklichkeit und spätere Krimi-Fiktion noch - aufgrund der Handlungspuren, die ein Täter am Tatort und im Umfeld der Tat hinterlassen hat, Rückschlüsse auf dessen Person ziehen - nämlich indem er in der Lage ist, genau zwischen jenen Elementen zu trennen, die zur Tatausführung notwendig waren und jenen, die der Täter zu seiner eigenen Befriedigung - oder aus innerem Zwang - hinzugefügt hat. Aus der Korrelation dieser täterspezifischen Vorgehensweise - dem modus operandi - mit den aus den Untersuchungen anderer Täter gewonnenen verhaltenspsychologischen Erkenntnissen formt - imaginiert? - der Profiler im üblichen Serienmörder-Thriller die schemenhafte Figur des Täters.
Der Ermittler tut also das, was Agent Starling von Hannibal Lecter erbittet - er deutet Verhaltensmuster, er wird vom Indiziendeuter Sherlock Holmes'scher Prägung zum Verhaltensdeuter, zum Psychologen und Soziologen, der nicht mehr aus Auftreten und Habitus erschließt, dass sein tatowiertes Gegenüber ein ehemaliger Marinesergeant ist, sondern der umgekehrt aus der Tat und ihren Umständen schlussfolgert, dass es sich bei dem Killer um einen tätowierten Marinesergeanten handeln muss, den er bisher überhaupt noch nicht gesehen hat.
Das alles kann der Profiler nur leisten, weil er bei der Ermittlung auf sich selbst zurückgreift, er eine Art Empathie für die Welt und die Gedanken seines Gegenspielers entwickelt, aus der heraus er die Details des modus operandi zu erklären versucht.

Die logische Folge der Begegnung von Agent Starling und Doktor Lecter wäre eigentlich gewesen, dass Hannibal der Kannibale aufgrund seiner ausgezeichneten Fachkenntnisse seine Zelle mit einem Beratervertrag des FBI hätte verlassen müssen, um in Zukunft als freier Sachverständiger Agent Starling und ihre Kollegen zu unterstützen: Der Täter als Ermittler, der Mensch als des Menschen Wolf.

Allerdings: Böse ist, wer Böses tut - ein solcher Schritt hätte mit einem Schlag das moralisch-ethische Fundament des gesamten Genres untergraben, die Übereinkunft, die darauf basiert, dass der Gute, also egal welcher Ermittler, egal von welchen Selbstzweifeln geplagt, das Regulativ des Bösen in der Welt darstellt, die er Krimi beschreibt.
Kriminalliteratur, das wäre die These, spürt die Bruchstellen der Gesellschaft auf, in der sie entsteht, doch sie ist nicht in der Lage, darüber hinaus zu gehen, ohne gegen die selbstgesetzten Regeln zu verstoßen, mithin sich selbst zu zerstören. Und diese Regeln besagen nun einmal - das hat Edgar Allan Poe in seiner Gussform vor mehr als 150 Jahren bereits festgeschrieben - dass der Mensch in der Lage ist, sich und die Welt zu verstehen. Sei es durch analytische Deutung ihrer Einzelteile oder durch Empathie für seinen Mit-Menschen.

Deshalb leben die Söhne und Töchter von Agent Starling und Doktor Lecter heute im Krimi als Ermittler, die um das Böse in sich selbst wissen, die es vielleicht auch bis zu einem gewissen Grad akzeptieren, die es aber auch kontrollieren - und es damit in den Dienst des Guten stellen. Damit gut sein kann, wer Gutes tut.

ENDE

Verwendete Quellen wurden im Text nachgewiesen.

Für den Vortrag habe ich Teile aus meinen folgenden Arbeiten verwendet:
Jesus, Buddha, der Müll und der Tod - Spurensicherung in Sachen Soziokrimi, in: Walter Delaber und Erhard Schütz (Hrsgb) Deutschsprachige Litertaur der 70er und 80er Jahre: Autoren, Tendenzen, Gattungen, Darmstadt: Wiss. Buchmeienschaft, 1997, S. 38-52

Der Fernsehkommissar - Vater, Freund, Helfer, in: Nina Schindler (Hrsgb): Flimmerkiste - Ein nostalgischer Rückblick, Hildesheim: Gerstenberg, 1999, S. 108-120

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Vortrag, gehalten am 26.11.2007 an der Hochschule Konstanz - Falkultät Architektur und Gestaltung, Studiengang Kommunikationsdesign, Prof Dr. Volker Friedrich. Vortragsreihe: Erzählte Welt – narrative Ethik. Wie Geschichten Werte vermitteln
© Reinhard Jahn

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