Siegfried Mrotzek:
Sein Lebenslauf ist ein halber Roman
Mit seinen Epigrammen, kurzen, knappen Gedankensplittern ist Siegfried Mrotzek aus Herdecke bekanntgeworden. Daneben schreibt er Kurzgeschichten, textet Chansons und übersetzt holländische Literatur und Comic-Sprechblasen.
Allein schon sein Lebenslauf ist ein halber Roman: als Halbwüchsiger gerät er in einem Alter, in dem man normalerweise konfirmiert wird, in die Mühlen des endenden Krieges. Nach dem Zusammenbruch arbeitet er als Knecht auf einem Bauernhof, lernt anschließend den Beruf des Drehers und wandert nach Kanada aus.
Als es ihm dort nicht gefällt, kommt er nach drei Jahren zurück, lässt sich in Wetter an der Ruhr nieder, bis ihm der Gedanke kommt, nach Südfrankreich zu reisen. In Amsterdam macht er Zwischenstation, möchte nur eine Woche bleiben - es werden vier Jahre daraus, in denen er Holländisch lernt, mit Freunden und Schriftstellerkollegen in "seinem" Stadtviertel lebt, nebenbei als Dreher arbeitet.
Siegfried Mrotzek ist wirklich her umgekommen, und dass er seit knapp zehn Jahren wieder im Revier lebt, zunächst in Dortmund und nun in Herdecke, heißt wahrscheinlich noch lange nicht, dass er zur Ruhe gekommen ist.
Schreiben und Leben gehören für ihn einfach zusammen. Als Siebzehnjähriger fing er mit Gedichten an ("Für den besten Verleger der Welt - den Papierkorb!"), in seiner Zeit in Kanada war er Redakteur einer deutschsprachigen Wochenzeitschrift, als Übersetzer und als Autor von Kurzgeschichten und Epigrammen hat er sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht.
Denn das Schreiben, "die gesündeste Form der Schizophrenie", ist eine Möglichkeit, Mitteilungen zu machen, von sich selbst und von der Welt, die. einen umgibt. Siegfried Mrotzeks Epigramme, die er selbst lieber "Kleinholz" nennt, sind das beste Beispiel dafür:' konsequente. aber kontrollierte Stellungnahmen zu der Wirklichkeit, kurz. prägnant. auf den Punkt gebrachte Argumentationsketten. die das Absurde mancher Situation erkennen lassen:
was unsere volksvertreter ganz besonders auszeichnet ist ihre vertretermentalität.
Siegfried Mrotzek nimmt das Schreiben persönlich, er weigert sich, seine eigene Meinung zu verleugnen und Lohnschreiberei für Dinge zu betreiben, die er nicht vertreten kann, sowohl inhaltlich als auch formal. "Ich kann es niemand übelnehmen, wenn er ein Sachbuch über Kirschenzucht schreibt, um ein bisschen Geld zu verdienen, obwohl er eigentlich etwas ganz anderes machen möchte", sagt er. Aber er nimmt gerade aus diesem Grund auch für sich in Anspruch, alles zu sagen und sagen zu dürfen, was ihn beschäftigt und beeindruckt.
"Ich kann es auch keinem Autor übel nehmen, wenn er einmal ein schlechtes Buch schreibt", sagt er weiter. "Nur darf er das nicht gewusst haben, als er das Buch geschrieben hat." Oder.. wie er es in einem seiner Epigramme ausdrückt:
Das perfekte gedicht ist nicht
und wird nie geschrieben
Davon leben die dichter
Eine Sache gut zu machen, etwas auf "die beste mögliche Art" zu sagen, das ist seine Einstellung zur Arbeit, eine Einstellung, die Konzentration und Einfühlungsvermögen bis an die Grenze der körperlichen und geistigen Belastbarkeit fordert: wenn er an Übersetzungen oder eigenen Texten arbeitet, verbeißt er sich in die Aufgabe, geht in ihr auf und ist kaum noch ansprechbar, bis schließlich (meistens wenige Stunden vor , dem Abgabetermin) der Schlusspunkt gesetzt worden ist: "Unter Zeitdruck arbeite ich am besten."
Siegfried Mrotzek, klein, kariertes Hemd und Lederweste, dazu Cordjeans und Holzclogs, gehört zu den "Höhlenmenschen", er ist einer, der sich in sein kleines Arbeitszimmer mit den deckenhohen Bücherregalen und den vier Schreibmaschinen ("Für alle Fälle!") zurückzieht, um sein Bestes zu geben. Denn wer schreibt, hat eine Mitteilung zu machen, trägt eine Verantwortung. auch, wenn das Buch schließlich nur 200mal verkauft wird. "Wer schreibt, macht immer eine politische Aussage. Wenn jemand nur Gedichte über Gänseblümchen schreibt - dann heißt das doch, dass ihm außer Gänseblümchen in seiner Situation nichts mehr einfällt. Und das hat doch auch seine Gründe!"
Mit Gänseblümchen allerdings beschäftigt sich Siegfried Mrotzek in seinen Epigrammen nicht; seine kurzen Texte legen den Finger auf wunde Punkte - sie sind Gedankengänge, die den "logischen Knick" in den Überlegungen der Mitmenschen freilegen:
"Die unmöglichkeiten von heute sind die möglichkeiten von morgen.
Das heißt, es ist möglich, die unmöglichkeit aufzuheben,
aber unmöglich, die möglichkeiten aufzuhalten."
Reinhard Jahn
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Zur Person:
Siegfried Mrotzek, geboren 1930 in Stolp/Pommern. 1944 Abbruch der Schule und Einsatz im Krieg. Nach 1945 zunächst Knecht auf einem Bauernhof, dann Berufsausbildung zum Dreher, anschließend als Kohlenschipper, Montageschlosser, Wachmann und Baggerführer tätig.
1957 wandert er nach Kanada .aus, schlägt sich als Anstreicher und Bauarbeiter durch, arbeitet im Eisenbahnbau und im Uranbergwerk, wird schließlich Redakteur einer deutschsprachigen Tageszeitung in Edmonton/Alberta.
Dann kehrt er nach Deutschland zurück, arbeitet von 1961 bis 1965 als technischer Angestellter, geht anschließend bis 1969 nach Holland und eignet sich während seines Aufenthaltes in Amsterdam die holländische Sprache an. 1973 kehrt er wieder zurück und lässt sich als freier Übersetzer und Autor in Herdecke nieder.
Bücher: Kleinholz (Epigramme, "1979), Verlag Atelier im Bauernhaus.
Übersetzungen: Jan Wolkers: Türkische Früchte, Zurück nach Oegstgeest, Harry Mulisch: Zwei Frauen; Ward Ruyslinck: Goldene Ophelia.
Reinhard Jahn:
Sein Lebenslauf ist ein halber Roman – Portrait Siegfried Mrotzek
Ruhr Nachrichten Dortmund/Essener Tageblatt Essen
Samstag, 23. Januar 1982