27.4.17

Krimi der Woche: Das Leck im Rathaus



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Das Leck im Rathaus

Von H.P. Karr

Diskretion! Privatermittler Harry Lux hat das Wort in den letzten zehn Minuten mindestens zwanzig Mal von dem Fraktionschef der Mehrheitspartei gehört.
Grund für all die Diskretion, mit der man die Privatdetektei Lux engagiert hat, ist eine Akte mit 25 Fotokopien, die der Fraktionschef vor sich liegen hat. Die lokalpolitische Strategie der Mehrheitsfraktion - Stadionausbau, Innenstadtsanierung, Gewerbeansiedlung.
»Gestern, am Montag, haben wir uns im engsten Kreis über dieses Strategiepapier abgestimmt«, sagt der Fraktionsvorsitzende. »Die Sitzung fand hier in meinem Büro statt, von 10 bis 12 Uhr.« Er tippt auf die Notizen am Rand, die auf den Kopien mitkopiert sind. »Diese Notizen habe ich dabei auf meine Vorlage geschrieben, die ich leider offen liegen ließ, als ich zu Tisch ging. Ich kam um 16.30 Uhr zurück ins Büro und fand alles unverändert. Doch dann steckt heute Morgen diese Fotokopie der kompletten Vorlage im Briefkasten des Tageblatts.« Er senkt die Stimme. »Zum Glück steht der Lokalchef unserer Partei nahe und hat mich sofort informiert.«
Harry Lux sieht die Kopien durch. »Da sind Schmierspuren des Kopierers auf den Blättern.«
»Eben!«, meint der Fraktionschef. »Genau solche Spuren hinterlässt einer der Fotokopierer hier im Fraktionsbüro. Sie begreifen, was das heißt?«
Die diskreten Ermittlungen von Harry Lux ergeben, dass nur zwei Personen aus dem Fraktionsbüro die Akte kopiert haben können: Susanne Kleinschmitt, die Sekretärin, und Reinhold Meyerbeer, ein Student, der sein Praktikum in der Fraktion macht. Der Zähler des Kopierers, auf dem die Akte kopiert wurde, zeigt an, dass gestern mit Meyerbeers Kopierkarte um 14.30 Uhr sieben und um 16.23 Uhr 28 Kopien gemacht worden sind. Die Kopierkarte von Susanne Kleinschmitt ist um 10.45 Uhr für 50 Fotokopien benutzt worden, und um 14.33 Uhr für weitere 18 Kopien.
»Damit«, meint Harry Lux zum Fraktionschef, »wäre wohl klar, dass Ihr Praktikant das Leck in der Fraktion ist.«
»Meyerbeer? Aber wieso denn?«
»Aus Gründen der Logik!«, sagt Harry Lux. »Der Täter konnte die Akte erst nach Schluss der Sitzung um 12 Uhr von Ihrem Schreibtisch entwenden. Nach 12 Uhr kopierte aber Susanne Kleinschmitt nur 18 Blätter auf dem fraglichen Gerät – doch das Strategiepapier umfasst ja 25 Seiten. Aber Meyerbeer kopierte um 16.23 Uhr 28 Blatt. Damit ...«
»... ist alles klar«, murmelt der Fraktionschef. »Bitte behandeln Sie Ihre Erkenntnisse vertraulich, ja? Der Herr Meyerbeer ist nämlich der Neffe unseres Ministerpräsidenten. Da muss man ...«
»Diskretion wahren!«, nickt Harry Lux.

© beim Auto r/ Badische neueste Nachrichten 5/2015
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