23.3.14

Marabo 2/1983
Dreh dich nicht um - Reportage Ladendiebstahl


Ladenklau: Dreh dich nicht um…

...der Detektiv geht um. "Du sollst nicht stehlen!" steht schon im Siebten Gebot der Bibel. Trotzdem schleppt der Ladenklau jährlich für mehrere Milliarden Mark Waren aus den Kaufhäusern. Unbezahlt.

Ein Privatdetektiv plaudert aus dem Nähkästchen.

Von Reinhard Jahn  und Annette Gilles

Wenn in einem großen Essener Bücherkaufhaus eine bestimmte Neunhunderternummer über die Lautsprecheranlage ausgerufen wird, ist der Bär los.
Dann kann man zwei gut gekleidete Herren durchs Taschenbuchsortiment nach vorn zur Kasse flitzen sehen, wo sie dann mit sanfter Gewalt - einer rechts, einer links - einen Kunden ins Gebet nehmen.
Ob's wirklich ein Ladendieb ist, stellt sich erst heraus, wenn der Unglückliche im Büro in der ersten Etage zur Sache "befragt" wird.

Das Räuber- und Gendarm-Spiel zwischen Rolltreppen und Warengondeln wird mehr als dreihunderttausend Mal im Jahr in der Bundesrepublik aufgeführt - mit wachsendem Erfolg: 1963 wurden nur 43.325 Fälle von Ladenklau angezeigt, 1974 waren es schon 188.560 und 1981 meldeten die Ladendetektive und Verkäufer mit den fixen Augen 312.920 große und kleine Fische bei der Kripo.

Trotzdem nennt die Kripo die Waren im Wert von zehn Millionen Mark, die 1981 allein in Nordrhein-Westfalen sichergestellt wurden, nur die "Spitze eines Eisberges". Die Schätzungen der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels gehen davon aus, dass im Lauf des Jahres Waren für mehrere Milliarden Mark unbezahlt aus den Warenhäusern und Supermärkten geschleppt werden. "Einklaufen" nennt das der Volksmund.

"Kein Wunder, dass bei den anfallenden Verlusten der Sicherheitsanspruch der Händler zu stark ist", sagt Walter H. aus Witten dazu.

Und er muss es ja wissen, denn er lebt als freischaffender Privatdetektiv mit einer kleinen Agentur und ein paar "Überwachungsaufträgen" nicht schlecht vom Sicherheitsstreben der Einzelhändler. Als ehemaliger Polizeibeamter hat er "die beste Ausbildung, die man sich denken kann" und natürlich auch die entsprechenden rechtlichen Kenntnisse, um seine Arbeit abzusichern.
Denn was Recht ist, muss auch Recht bleiben - deswegen hat es auch wenig Sinn, Detektiv H. danach zu fragen, ob er sich beim täglichen Cop-and-Robber-Spiel als Held oder Bösewicht versteht.
Seine Rechtsauffassung ist ebenso einfach wie klar:  "Mich stört es, wenn einer einem anderen Sachen entwendet." Sobald er in "seinem" Kaufhaus einen Ladenklau entdeckt, gibt es für ihn nur noch seinen Kontrakt und sonst gar nichts.

Und da steht, dass so ein Dieb gestellt werden muss.  "Dass ist ja meine Aufgabe", meint er. "Ich habe einen Vertrag mit dem Kaufhaus. Das ist  keine Frage."
Und natürlich juristisch wasserdicht nach § 855 BGB abgesichert: "Ich handele im Auftrag des Hauses. Als Besitzdiener!" Und als Besitzdiener hat er darauf zu achten, ob jemand "eine "fremde bewegliche Sache" wegnimmt, "mit der Absicht, sie sich rechtswidrig anzueignen." (§ 242 StGB)
Der Ladenklauer selber hat wenig Verständnis für solche formaljuristischen Differenzierungen, für ihn ist der Ladendetektiv einfach der "Greifer", der einen "weggreift", wenn man so dumm war, sich erwischen zu lassen.

Ansonsten  gibt es kaum fremde und bewegliche Sachen, die nicht mitgenommen werden. Von der Waschmaschine bis zum Lippenstift wird alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest oder gut gesichert ist.
Detektiv H.: "Solche Schwachstellen, wo es dem potentiellen Dieb unheimlich leicht gemacht wird, müssen natürlich beseitigt werden!" Und zwar nicht nur im Verkaufsraum, sondern auch im Lager, denn das Personal ist mindestens so schlimm wie der Ladenklau unter der Kundschaft. Im "Rampengeschäft", weiß unser Detektiv, "da wird natürlich viel geschoben, auch in den Außenlagern und so weiter."
Ein Drittel lässt die Kundschaft mitgehen, ein Drittel das Personal und ein Drittel verschwindet durch Fehler bei der Warenhaltung und Warenbewegung - so schlüsseln Fachleute den Schwund auf, der in manchen Fachgeschäften bis zu drei Prozent des Umsatzes ausmachen soll.
Detektiv H. meint dazu aus eigener Erfahrung: "Ich würde sagen, es kann sich die Waage halten zwischen Personal und der Kundschaft, aber die Fehler in der Warenbuchhaltung selbst werden durch den Einsatz modernster Technik praktisch auf ein Minimum reduziert."

Mit der modernen Technik hat sich auch der Dieb auseinanderzusetzen, der es auf Luxusgüter abgesehen hat. Da nageln Textilhäuser tellergroße Plastikmarken in die Konfektion, leimen die Schallplattenabteilungen magnetisierte Kontrollstreifen auf Tonbandkassetten und die Radioabteilung klemmt Elektrokontakte an Radiorecorder und Fernsehportables. Aber egal, was sich die Konzerne auch einfallen lassen, um dem Ladenklau das Leben schwer zu machen - die Anhänger des schottischen Einkaufens sind den Technik-Tüftlern der Sicherheitsindustrie durchaus gewachsen.

"Man versucht natürlich immer, die Nase vorn zu halten", sagt Detektiv H. dazu. "Aber was nutzt eine teure Technik, wenn sie nach einem halben Jahr überfällig geworden ist?" Denn nach. einem halben Jahr hat auch irgendein technisch versierter Ladenklau den Dreh gefunden, mit dem man Kontrollmarken selbst entfernen kann, ohne dass eine Sirene aufheult. Oder er hat zumindest einen Notausgang ohne Sensoren entdeckt, durch den er verschwinden kann.

Nachdem die Kaufhäuser dazu übergegangen sind, Ladendiebe grundsätzlich anzuzeigen, bringt jeder Fall für den Detektiv noch einen Sack voll Arbeit mit sich: im Kaufhausbüro muss überprüft werden, was der Dieb hat mitgehen lassen, seine Personalien werden festgestellt, ein Hausverbot wird ausgesprochen und die Anzeige für die Polizei geschrieben. Dann geht alles seinen behördlichen Gang: Ermittlungen werden angestellt, und sobald jemand bei der Staatsanwaltschaft ein öffentliches Interesse an der Sache feststellt, wird auch Klage erhoben. Die kann dann bei Wiederholungstätern, Bandendiebstählen oder Vorfällen, bei denen Raubelemente mit im Spiel waren, böse Folgen haben: "Dann werden ganz empfindliche Strafmaße ausgesprochen!" erklärt Detektiv H. und erinnert sich an ein wiederholt aufgefallenes Ehepaar, das schließlich 24 und 20 Monate auf Bewährung bekam, zuzüglich 5.000 DM Geldstrafe.

Wie bestraft wird, hängt grundsätzlich von der Einschätzung der Staatsanwaltschaft ab, die bei Ersttätern oder Bagatellsachen auch schon mal einen Ladenklau mit einem blauen Auge in Form einer Geldspende an eine gemeinnützige Vereinigung davonkommen lassen. Großer Beliebtheit erfreut sich auch der Wochenendeinsatz in sozialen Einrichtungen.

Solche Maßnahmen gelten nicht als Vorstrafen, ganz im Gegensatz zum normalen Strafbescheid über 100 oder 150 Mark und mehr, der bei den Unbelehrbaren erlassen wird. 
Aber bevor man den Ladenklau verurteilen kann, muss man ihn erst erwischen. Detektiv H. bekommt durchschnittlich zehn Anzeigen im Monat durchs Gefühl: "Wenn man das lange genug gemacht hat, bekommt man automatisch ein Gespür" dafür, dass da etwas laufen könnte", sagt er. "Also ich seh das an den Augen. Ich habe schon Fälle gehabt, da habe ich gesagt: 'Also, dem gehen wir hinterher!' Das war am Haupteingang, und dann sind . Wir drei Etagen hochgefahren, das hat eine ganze Stunde gedauert, und dann hat der auch geklaut!"

Es ist natürlich das Verhalten, das den Ladendetektiv aufmerksam werden lässt: Das Umherschauen, die Blicke zum Verkaufspersonal und die Position, in der man zum Warensortiment steht. "Aber das sind schon wieder Sachen", sagt Detektiv H., "die möchte ich nicht so gerne erzählen. Wenn die veröffentlicht werden, dann könnte der Täter sich natürlich darauf einstellen." 

Für seine überwiegend jugendliche Kundschaft hält sich Detektiv H. mit Schwimmen und Dauerläufen in Form: 37 Prozent aller gefassten Ladendiebe sind unter 21 Jahren alt, und was sie klauen, ist eigentlich kaum der Mühe wert, hinter ihnen herzujagen. 58 Prozent der Ladendiebe hatten Waren im Wert bis zu 25 Mark eingesteckt, 27 Prozent hatten nach Sachen gegriffen, die bis zu hundert Mark kosteten.

Der Trickdieb, der mit der Sackkarre über die Laderampe kommt, den Verkäufer fragt, ob er ihm doch bitteschön die zehn Videorekorder aufladen könne und der dann verschwindet, nicht ohne noch vorher einen Karton Kassetten mitgenommen zu haben, ist die Ausnahme, genauso wie der Landgerichtspräsident oder die Nonne, die schon beim Klaufen erwischt worden sind. Oder auch der Gerichtsgutachter mit dem Spezialgebiet 'Kleptomanie und Ladendiebstähle', den ein Rasierspiegel vor den Kadi brachte. Wer den Schaden hat, braucht für die Kosten nicht zu sorgen.

Egal, ob sich ein Kaufhaus eine Stücksicherungsanlage für 50.000 Mark leistet oder sich wie die Karstadt AG 180 Detektive - pensionierte Polizisten, ehemalige Zeitsoldaten und  Bundesgrenzschützer - in Lohn und Brot hält (Kostenpunkt: 8 Mio. Mark), man fühlt sich der Faustregel verbunden, dass Eigentum verpflichtet. Und zwar zum Schutz desselben vor Langfingern. Dazu ist dann auch jedes Mittel recht: da werden die Namen der ertappten Ladendiebe am Schwarzen Brett ausgehängt, da schnüffeln durch Kopfprämien (die der Ladendieb zu zahlen hat) scharfgemachte Verkäufer in den Taschen der Kunden in der Kassenschlange. Oder man sagt dem Kunden gleich, dass man glaubt, er könne seinen inneren Schweinehund nicht im Zaum halten:

"Bitte schließen Sie Ihre Tasche doch am Eingang in unsere Schränke ein." "Vertrauenskunden" führen das Personal in Versuchung; "Schmuhgeld" an der Registrierkasse vorbei in die eigene Tasche zu stecken.
Den Ladendieb aber, den fortgeschrittenen, ficht aller Sicherheitsaufwand kaum an. Wird ihm das Pflaster in einem Laden zu heiß, wechselt er einfach ins Nachbargeschäft, da klappt dann meistens alles wie gehabt: Kleine Sachen verschwinden in tiefen Parka- oder Manteltaschen, die unten aufgeschnitten sind, damit zwischen Futter und Stoff genügend Platz zum Bunkern entsteht. In den Umkleidekabinen von Textilgeschäften schlüpft man in zwei oder drei Paar Hosen, zieht noch eine Jacke drüber und verschwindet.
Im Kaufhaus-Supermarkt wird rasch eine Flasche Schnaps über die Barriere zum Kumpel hinübergereicht, oder, wie man sich in Insiderkreisen erzählt, die Kaviardose in der Tüte mit den Weintrauben versteckt.
Wie sich überhaupt das Prinzip "Teure geklaute Ware in der billigen gekauften" immer mehr durchsetzt, seitdem die dreiteiligen, bombenfest geklebten Preisschilder den notorischen Etikettenknibblern den Garaus gemacht haben, die es schon fertiggebracht haben sollen, den Krimsekt (cirka 20 Mark) zum Preis von deutschem Schaumwein (5 Mark) durch die Kasse zu bringen.


Beim Diebstahl selbst muss man auch die Spezialisten erwischen, die zunächst einmal wirklich einkaufen und dabei ihre Handschuhe an der Kasse liegenlassen. Nach zwei Minuten kommen sie mit leerem Einkaufsbeutel zurück, füllen alles, was sie eben gekauft haben hinein und holen sich die Handschuhe an der Kasse wieder ab. Hat man den Spezialisten nicht beim zweiten Mal dabei beobachtet, wie er gestohlen hat, kann man ihm nur sehr schwer auf die Schliche kommen, denn schließlich hat er für alle Waren in seiner Tüte noch einen Bon, den er beim ersten Einkauf bekommen hat. Dass die Dinge aus dem ersten Einkauf aber beim Kollegen draußen auf der Straße deponiert sind, geht keinen was an.

An die Grenze des Betruges geht es auch, wenn sich einer ein Gerät für fünfzig Mark kauft, sich dann ein zweites Exemplar aus dem Regal nimmt und es samt Kassenbon bei der Kundendienstabteilung zur Reklamation oder zum Umtausch vorlegt. Mit dem Warenscheck, den er dann meist bekommt, kann er weiter einkaufen.

Als Gesellschaftsspiel bei Jugendlichen ist auch das Gruppenklauen eingerissen, bei dem einer oder zwei die Verkäuferinnen mit dummen Fragen ablenken, während die anderen die Regale abräumen.
Was geklaut wird und von wem kann sich jeder Geschäftsmann ausrechnen, wenn er sich die Gegend betrachtet, in der sein Laden liegt. Detektiv H.: "Wenn es zum Beispiel ein Warenhaus im Bereich einer Berufsschule ist, dann kann man davon ausgehen, dass vor allem Kosmetika und Alkohol gestohlen wird. Natürlich hängt das alles auch vom Sortiment ab, das angeboten wird. Wie das ausgestellt ist und was da für Ware präsentiert wird." 

Wer in diesem Zusammenhang allerdings den Ladenklau ideologisch als eine Art angewandter Kapitalismuskritik verbrämen will, der übersieht, dass in der Regel zwar mit einem erfrischend unterentwickelten Unrechtsbewusstsein aber ohne jede weltanschauliche Basis geklaut wird. Der persönliche Erfolg steht im Vordergrund und das Erlebnis des Konsumrausches ohne finanzielle Reue. Das ist die Klemme, in die sich die Herren der Konsumtempel mit ihren psychologisch ausgetüftelten Verkaufsdisplays und Warenpräsentationen selbst hineinmanövriert haben: Der Kunde soll sich vergessen und zugreifen - egal ob er das Ding braucht oder nicht. Wie perfekt ihre Strategien wirken, können die Warenhäuser eigentlich am Ladenklau messen. Der greift nämlich zu und vergisst auch noch das Bezahlen.

Reinhard Jahn und Annette Gilles:
Dreh dich nicht um
Reportage Ladendiebstahl
in: MARABO, Heft 2 (Februar) 1983, S.40 - 42