8.2.12

H.P. Karr: Der Vollstrecker


Er hatte zwei Häuser entfernt geparkt und beobachtete die blonde Frau nun schon seit einer Viertelstunde. Sie hängte in im Garten Wäsche auf. Ihr Mann arbeitete an dem Rosenbeet.
Die Unterlagen, die sie ihm über ihn gegeben hatte, waren dürftig, wie immer. Der Umschlag in seinem Aktenkoffer auf dem Beifahrersitz enthielt nur einen Bogen mit Namen, Anschrift.
Die beiden schienen noch nichts zu wissen. Das war ungewöhnlich. Die meisten wussten schon seit langem Bescheid, waren nervös und hektisch. Manche drehten durch, wenn sie ihn sahen. Der Mann im Wagen arbeitete lieber in Großstädten, aber er konnte es sich nicht aussuchen, wohin sie ihn schickten. Er bekam seine Aufträge direkt vom Chef, in einem mahagonigetäfelten Büro in einem anonymen Bürohochhaus.
"Sie kennen ja unsere Devise", pflegte der Chef zu sagen, wenn er ihm den Umschlag gab. "Kein Aufsehen! Niemand darf Verdacht schöpfen!"
***
Der Mann im Wagen kontrollierte noch einmal sein kleines Köfferchen. Außer dem Umschlag lagen noch ein paar Bündel Geld darin. Er zählte die Scheine sorgfältig durch, obwohl er den Betrag genau kannte. Es war die Hälfte, wie üblich. Es gab niemals die ganze Summe, sondern immer erst einmal die Hälfte.
Der Mann verschloss das Köfferchen und lehnte sich zurück. Er würde gegen acht Uhr warten. Dann saßen die Leute vor dem Fernseher. Allein. Er konnte es sich nicht leisten, Zeugen zu haben.
Der Mann schaute nachdenklich hinüber zum Einfamilienhaus und fragte sich, wie er reagieren würde, wenn das Los einmal auf ihn fallen würde. Ob er dann auch so schwitzen und zittern würde, wie er es oft genug gesehen hatte.
Der Mann seufzte. Der Abend war langsam gekommen. Die beiden waren ins Haus gegangen. Er nahm das Köfferchen und machte sich auf den Weg. Auf sein Klingeln dauerte es eine Weile, bis die Frau öffnete.
"Darf ich eintreten?" Sie schaute ihn verwirrt an. Wie paralysiert. Der Mann saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher.
"Was...", fuhr er hoch, als der Besucher hereinkam.
"Herr Becker?" Der Mann stellte sein Köfferchen auf den Tisch.
"Ja. Was..."
"Herzlichen Glückwunsch", sagte der Mann und klappte den Koffer auf. "Ich bin von der Lottogesellschaft und bringe Ihnen Ihren Gewinn. Einmal fünf plus Zusatzzahl, das sind genau 650.000 Euro. Die Hälfte habe ich hier in bar, über den Rest bekommen Sie einen Scheck."
Er war immer das Gleiche. Die blassen Gesichter. Die fiebrig glänzenden Augen. Die zitternden Hände. Die Schreie. Die Küsschen von den Frauen. Der Sekt.
Er hasste seinen Job.

ENDE

H.P. Karr: Der Vollstrecker
Badische Neueste Nachrichten 39/2008

Erschienen in:
Badische Neueste Nachrichten 39/2008