2.11.06

Die deutsche Krimi-Szene

„Wo steht der deutsche Krimi?" fragte man sich vor ein paar Jahren in einer Festival-Broschüre, und gab sich gleich die Antwort:
"Der deutsche Krimi steht ziemlich gut da, denn inzwischen werden jedes Jahr rund 200 neue deutschsprachige Krimis veröffentlicht."
Doch daß Masse nicht immer Klasse ist, wissen am besten jene deutschen Krimiautoren, Lektoren und Agenten, die dann auch zzu einem der vielen Krimi-Festivals oder zur Buchmesse anreisen, um sich die Ergebnisse des Schaffens deutschsprachiger Spannungsliteraten präsentieren zu lassen. Da werden Qualitätsunterschiede sehr schnell deutlich. Über 100 Verlage produzieren Kriminalromane in Deutschland: der Verdacht liegt nahe, daß manches Werk nur deshalb verlegt wird, weil man geneigt ist, den sicheren Verkaufserfolg innerhalb des stetig wachsenden Marktes dieser Genreliteratur zu suchen.

Unverkennbar ist, daß viele Häuser zwei Erfolgsgeschichten im Bereich deutscher Krimi reproduzieren möchten: die von den beiden kleineren Verlagen grafit (Dortmund) und Emons (Köln). Beide begannen Mitte der achtziger Jahre, als der Krimi bei den traditionellen Publikumsverlagen in eigenen Taschenbuchreihen erschien und gleichbedeutend war mit angloamerikanischer Ware. In diese Szenerie stieß der spätere Grafit-Verleger Rutger Booß zunächst als Lektor des Weltkreis Verlages mit seinen "Weltkreis-Krimis", aus denen später nach der Gründung von Grafit 1989 die schwarzen "Grafit-Krimis" wurden.

Bis 2002 sind hier mehr als 160 deutsche Krimis im Paperback erschienen - zu den Bestsellerautoren des Hauses gehören nach Verlagsangaben Jacques Berndorf mit seinen Eifel-Krimis (1,8 Mio Exemplare), das jüngst zu Rowohlt gewechselte Autorentrio Leenders/Bay/Leenders mit seinen Niederrhein-Krimis (400.000 Ex).

Ähnlich verlief die Geschichte des Emons-Verlages, gegründet 1985 in Köln . Dort begann es mit den "Köln-Krimis" von Christoph Gottwald und anderen lokal bezogenen Krimis. Im Gegensatz zu Grafit, der sich rigoros der aktuellen, gegenwartsbezogenen Kriminalliteratur mit gelegentlichen gesellschaftskritischen Untertönen verschrieben hat, publizierte Emons auch im Bereich des historischen Krimis: zu dem am besten verkauften Titel gehört hier Frank Schätzing mit seinem Mittelalter-Dombau-Roman "Tod und Teufel".

In dem Maße, in dem beide sich mit wachsendem Erfolg vom Image der "Regionalkrimi"-Produzenten zu Gunsten bundesweiter und allgemeiner Wahrnehmung zu lösen versuchen, stießen viele kleinere Verlage in die Lücke: Leda widmet sich der Region Friesland, Gmeiner dem "Schwabenkrimi" und be-bra dem Berlin-Krimi samt der Region Berlin-Brandenburg.

Während in der Regionalkrimi-Liga die thematischen und inhaltlichen Essentials innerhalb eines recht weiten Rahmens - von der Polizeigeschichte bis zum Gaunerstück - klar auf der Hand liegen, fahndet man in der Oberliga nach einer originären Variante des "deutschen Krimis" in der Abgrenzung zum angloamerikanischen Muttergenre. Die zunehmend wachsende Zahl der jungen (oder besser: neuen) Krimiautoren versucht sich im Einvernehmen mit den Verlagen meist in „Krimi-und"-Kombinationen, wie etwa dem "Frauen-Krimi".
Zu den schon seit langem höchst erfolgreichen Vertreterinnen dieser Richtung zählen Altmeisterin Ingrid Noll bei diogenes und Susanne Mischke bei Piper mit ihren boshaft-zynischen Romanen.
Die Krimiszene der letzten Jahre ist geprägt von dieser Diversifizierung, die sich in zahlreichen weiteren Ansätzen zeigt, Krimi mit zusätzlichen Elementen zu koppeln: vom Gourmet- und Gastrokrimi über den in Deutschland höchst erfolgreichen historischen Kriminalroman - Petra Oelker glänzt bei rororo mit Auflagenzahlen von weit über 100.000, der vielfach preisgekrönte Robert Hültner schafft es bei btb, mit seinen zu Zeiten der Räterepublik und den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts spielenden Romanen, fast vergessene Kapitel deutscher Geschichte zehntausenden von Lesern ins Gedächtnis zu rufen.

Der Erfolg des Österreichers Wolf Haas mit seinem skurrilen Privatdetektiv Simon Brenner (sein aktueller, nicht gerade plotorientierter und sich allen gängigen Genreeinordnungen verschließender Roman „Das ewige Leben" bei Hoffmann & Campe erreichte im Hardcover bereits zwei Monate nach Erscheinen eine Auflage von über 50.000 Exemplaren) läßt mehr als ahnen, daß der deutschsprachige Krimi sein Nischendasein endgültig überwunden hat - und nicht mehr nur dann Erfolg hat, wenn er innerhalb des Genres in eine bestimmte Schublade gesteckt werden kann.

Auch, wenn bisher nur etwa drei Dutzend der jährlich rund 200 Erstveröffentlichungen deutschsprachiger Kriminalromane bei den größeren und großen deutschen Verlagen erscheinen und der Markt immer noch von angloamerikanischen Autoren dominiert wird: die Verkaufszahlen der Romane deutschsprachiger Krimiautoren und -autorinnen sprechen für sich.
Petra Hammesfahrs psychologisch motivierten Kriminalromane bei Rowohlt liegen im Taschenbuch jeweils weit über 100.000 verkauften Exemplaren, selbst ihre Hardcovertitel erreichen 40.000 Exemplaren und mehr - Christa von Bernuth mit ihren ebenfalls dieser Genregattung zuzuordnenden Büchern bei Goldmann dürfte auf kurz oder lang ebenfalls in derlei Dimensionen vorstoßen.

Die aktuelle Entwicklung gibt nicht nur in verkaufstechnischer Hinsicht zu großen Hoffnungen Anlaß: die mit dem deutschen Krimi Preis 2003 ausgezeichneten "Süden"-Romane von Friedrich Ani bei Droemer-Knaur beziehen sich in ihrer höchst eigenen Konzeption auf die europäische Krimitradition von Friedrich Glauser (Wachtmeister Studer) bis Georges Simenon (Maigret) mit einer dezenten sozialkritischen Unterfütterung (Sjöwall/Wahlöö) und sind damit ein mehr orginärer "deutscher Krimi" als manches, was unter diesem Label gedruckt wird.

Von einer zeitgenössischen deutschen Kriminalliteratur kann ohnehin erst seit Ende der Sechzigerjahre gesprochen werden. Krimis erschienen damals überwiegend in eigenen Reihen der Taschenbuchverlage: die Roten Goldmann-Krimis, die gelben Ullstein-Krimis und die Kriminalromane aus dem Heyne-Verlag. Einen neuen Akzent in den hauptsächlich von angloamerikanischer Ware bestückten Reihen setzte Rowohlt-Lektor Richard K. Flesch, seit 1962 verantwortlich für die rororo-thriller. In seiner auf literarisch anspruchsvolle Titel spezialisierten Reihe hatte er auch französische Autoren (Boileau/Narcejac, Sebastien Japrisot) und besonders skandinavische Titel veröffentlicht (Sjöwall/Wahlöö).

Dazu kamen ab dem Ende der sechziger Jahre Titel deutsche Autoren - von den traditionellen Romanen Hansjörg Martins über die Polizeigeschichten von Friedhelm Werremeier bis zu den gesellschaftlich engagierten Autoren wir Michael Molsner. Die größte Furore in Fleschs Deutschkrimi-Bukett machte der lange Zeit anonyme "-ky" (alias Horst Bosetzy) mit seinen rasanten Romanen. Der später sogenannte deutsche Soziokrimi war geboren - Krimis als Kommentare zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.

Die Reaktion der Branche auf Fleschs Präsentation von deutschen Krimis war unentschlossen: In zunächst noch von Bernd Jost (später verantwortlich bei rororo für den Bereich Kriminalroman), ab1982 dann von Martin Compart betreuten Ullstein Krimi-Reihe gab es mehrere Versuche mit Polizeithrillern, z.B. denen von Willi Voss. Bei Goldmann wurde versucht, mit einigen Manuskriptwettbewerben um den "Edgar-Wallace-Preis" deutsche Autoren zu entdecken. Von den dort zu Siegern gekürten Schriftstellern bewährten sich nur einige im Genre: Detlef Blettenberg etwa, oder das Universaltalent Gisbert Haefs, sowie Irene Rodrian, die eigentlich zur Rowohlt-Mannschaft gehörte, aber mit dem "Tod auf St. Pauli" einen Edgar-Wallace-Preis gewann.

Bei Bastei-Lübbe reagierte man ebenfalls mit einem eigenen Wettbewerb um einen "Jerry Cotton Preis", bei dem unter anderem Hans Werner Kettenbach mit seinem Roman-Erstling ("Grand mit Vieren") prämiert wurde, sowie Uwe Erichsen, der in der von Will Platten betreuten Bastei-Lübbe-Reihe mit "deutschen Krimis" einige sehr solide Romane veröffentlichte, darunter die Vorlage zu dem von Dominik Graf sehr erfolgreich verfilmten Thriller "Die Katze".
So stagnierte der deutsche Krimi Ende der siebziger und Anfang der achtziger auf einem mittleren Niveau - Autoren waren und Verlage waren immer noch auf der Suche nach einem "eigenen" deutschen Krimi, der sich auf der Basis des angloamerikanischen Genremuster mit einer eigenen Stimme artikulierte.

Mit dem so genannten "Frauenkrimi" gab es den ersten großen Erfolgstend im Genre - Krimis als Begleitliteratur zu Feminismus und Emanzipationsbewegung, in denen oftmals die formalen Vorgaben des Genres nur als Folie zur Ideologievermittlung benutzt wurden. Damit war der Frauenkrimi nicht weit entfernt vom "Sozio-Krimi" der ersten Stunde, dem stark am Vorbild der Martin-Beck-Romane von Sjöwall/Wahlöö orientierten sozialkritisch positionierten Kriminalliteratur. Grundzüge davon finden sich auch noch in den ersten Regionalkrimis aus der oben angeführten Produktion von Grafit und Emons.

Deutliches Zeichen für eine Veränderung der Wahrnehmung des Genres ist die derzeit übliche Veröffentlichung von "Krimis" als "Roman" in den allgemeinen Programmen der Großverlage. Bastei-Lübbe stellte seine "deutsche" Krimireihe Ende der neunziger ein, Goldmanns Rote Krimis existieren noch als Backlist-Reservoir älterer Erfolgstitel, Heyne hat nach der abgeschlossenen Kooperation der "Haffmans Krimis bei Heyne" keine eigene neue Krimireihe mehr aufgelegt. Das Auslaufen der Krimis des Scherz-Verlages - Heimat eines Großteils der deutschen Agatha-Christie-Ausgaben - scheint nach der Verlegung des Hauses von Bern nach Frankfurt am Main absehbar.

Thomas Wörtche, Querdenker und einer der herausragenden Kenner der Kriminalliteratur, ist einer der wenigen, der sich diesem Einstellungstrend der Taschenbuch-Krimireihen widersetzen: Mit der im Unionsverlag von ihm herausgegebenen und erst vor wenigen Jahren gegründeten UT-METRO-Reihe, die sich freilich bis jetzt auf die Kriminalliteratur abseits des us-amerikanischen Mainstreams konzentriert und (noch) keine deutschen Autoren bringt.

Was die einen als schamhaftes Verschweigen des Labels „Krimi" beklagen, sehen andere als Fort- und Weiterentwicklung: In einem Land, in dem immer noch sehr deutlich zwischen ernster und Unterhaltungsliteratur unterschieden wird, verliert der Kriminalroman mit der äußerlichen Unkenntlichungmachung seiner Konturen auch seinen „Haut-gout" - als Roman, sagen viele, würde er vom deutschen Publikum deutlich besser angenommen: ein guter Roman sei eben ein guter Roman, gleich, ob er einen Mord beinhalte oder nicht. So nimmt es nicht Wunder, daß renommierte Literaturverlage, die weder im Krimigenre daheim sind, noch eine angeschlossene Taschenbuchreihe haben, deutsche Krimiautoren sehr hoch hängen: Etwa Kunstmann in München (hier ist Anne Chaplet mit ihren auf Zeitpolitik bezugnehmenden Romanen deutschlandweit auf dem Sprung an die Spitze) oder Eichborn.Berlin - dort ist der 30jährige Jan Costin Wagner mit seinem die Grenzen des Genres sprengenden literarischen Kriminalroman „Eismond" Spitzentitel im Herbst 03.

Begleitet und unterstützt wird die Entwicklung des deutschen Krimis von eine inzwischen gut funktionierenden "Szene-Netzwerk" und einer florierenden Veranstaltungslandschaft, in der kaum ein Tag ohne Krimilesung, Kriminacht oder eine andere Krimiveranstaltung vergeht, bei der Literaturpräsentation und „Event-Kultur" mitunter die seltsamsten Symbiosen eingehen ("Tierische Krimis im Zoo").

Die Besucherzahlen der Krimiveranstaltungen beweisen die ständig steigender Beliebtheit des deutschen Krimis beim Lesepublikum, und sie sind zugleich auch Anerkennung dafür, daß die Autoren bereit sind, sich ihr Publikum zu "erlesen".
So gut das Verhältnis des deutschen Krimis zu seinem Publikum ist, so belastet scheint es allerdings in Bezug zur Kritik und dem Feuilleton zu sein, dessen Genrekenntnis und -wahrnehmung allerdings auch oft bei den us-amerikanischen Klassikern wie Chandler und Hammett endet.

So steht, um auf die Frage des Anfangs zurückzukommen, der deutschsprachige Krimi im Moment in der Tat recht gut dar. Er hat in den letzten 30 Jahren das Getto der standardisierten Taschenbuchliteratur ebenso verlassen wie seine Position als Wurmfortsatz der internationalen Kriminalliteratur. Die Zahl der neuen Titel ist korrespondierend zur Zahl der aktiven Autoren beständig gestiegen - und es entwickeln sich immer neue Formen und Spielarten des deutschsprachigen Kriminalromans. Was für den bei Haymon verlegten Südtiroler Kurt Lanthaler mitsamt dessen sperrigen Helden, den LKW-Fahrer Tschonnie Tschenett, gilt, über den Ekkehard Knörer im Perlentaucher schrieb „Für diesen Schriftsteller ist in keiner Schublade Platz", das kann man getrost auf die Branche übertragen. Und das ist gut so.

Georg Simader & Reinhard Jahn

Georg Simader ist Leiter der Literaturagentur copywrite, Frankfurt am Main.

Reinhard Jahn (Autorenname: H.P.Karr) gehört zu den Gründungsmitgliedern des Bochumer Krimi Archivs. Darüber hinaus publiziert er das Lexikon der Deutschen Krimi-Autoren im Internet und organisiert einmal im Jahr die Vergabe des Deutschen Krimi-Preises

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