21.9.17

Krimi des Tages:
Totenblumen

Totenblumen

Von H.P. Karr




Das Grab war gemacht worden. Weiße Lilien lagen vor dem Grabstein.
    Eric Ritter 1979-2012
    Vivian legte ihren Blumenstrauß aufs Grab. Der Friedhof von Hüls vor den Toren von Krefeld lag still im Abendlicht. Ein leichter Herbstwind ließ die Blätter rascheln. Vor vier Wochen, als sie aus den USA zurückgekommen war, hatte sie zum ersten Mal festgestellt, dass Erics Grab gepflegt wurde.
    Von wem?
    Immer lagen weiße Lilien vor dem Grabstein. Totenblumen. Eric war damals um halb neun am Abend auf seiner Joggingstrecke am Hülser Berg von einem Wagen überrollt worden. Unfall mit Fahrerflucht, meinte die Polizei.
    Vivian war sicher, dass Eric ermordet worden war, doch Kommissar Brenner hatte sich scheinbar nicht um ihren Verdacht gekümmert. Dann hatte die Firma sie für ein Jahr in ihre Filiale in den USA geschickt. Sie hatte nichts dagegen, weil es nichts mehr gab, was sie in Krefeld hielt. Eric und sie hatten heiraten wollen - er war Forschungsleiter bei dem großen Konzern in Krefeld gewesen, bei dem Vivian als Fachübersetzerin arbeitete.
    Als die Frau im schwarzen Mantel auftauchte, zuckte sie zusammen. Helga! Die große, sportliche Blondine hatte einen Strauß Lilien dabei.
    »Hallo, Vivian!« Helga legte die Blumen aufs Grab.
    Vivian räusperte sich. »Warum bist du …«
    »Du weißt doch, dass Eric und ich uns sehr nahe gestanden haben«, sagte Helga kühl. Sie war mit Eric zusammengewesen, ehe er Vivian kennenlernte. Und Vivian erinnerte sich nur zu gut daran, wie Eric unter den Szenen gelitten hatte, die sie ihm bei der Trennung machte.
    »Aber sie muss sich damit abfinden«, hatte Eric ihr versichert. »Ich liebe nur dich, Vivian!«
    Es war still auf dem Friedhof. Außer einem Mann, der hinten am schmiedeeisernen Tor zur Tönisberger Straße stand, war niemand zu sehen.
    »Du verstehst doch, dass ich ihn nicht gehen lassen konnte«, sagte Helga. »Eric gehörte zu mir.«
    Ein entsetzlicher Gedanke schoss Vivian durch den Kopf. »Was sagst du da?« Helga lebte hier in Hüls, ganz in der Nähe von Erics Joggingstrecke. Und sie war eine leidenschaftliche Frau. Leidenschaft und Unbeherrschtheit lagen nah beieinander. Genau wie Liebe und Hass.
    »Sein Unfall …«, sagte Vivian. Plötzlich war ihr alles klar. »Du hast ...«
    »Ich hab ihn auf einmal vor mir gesehen, beim Joggen«, zischte Helga. »Es war dunkel, und ich hatte nur ausnahmsweise die Strecke genommen ...« Sie kicherte böse. »Wenn ich ihn nicht haben konnte - dann solltest du ihn auch nicht haben!«
    Der Mann vom Tor kam heran. Er trug eine Art Uniform.
    »Kommen Sie?«, sagte er zu Helga.
    »Sie ist eine Mörderin!«, schrie Vivian.
    »Ich weiß«, sagte der Mann. »Sie hat ihren Ex-Lebensgefährten überfahren. Es hat lange gedauert, bis Kommissar Brenner sie überführen konnte. Zehn Jahre hat sie bekommen. Und weil sie sich gut führt, hat der Direktor der Frauen-JVA Willich ihr einmal im Monat Ausgang gewährt. Damit sie das Grab pflegen kann.«
    Die Sonne verschwand. Es wurde plötzlich kalt auf dem Friedhof. 

H.P. Karr:
Totenblumen

auf einen blick Heft 29/2013
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