29.5.15

Zur Typologie des Kriminalromans
Buchreport 24/1995



Zur Typologie des Kriminalromans:

 Der Krimi war stets Massenware, sein Dogma — wie bei aller U-Literatur: »Du sollst nicht langweilen«
 Die generalisierend als »Krimi« bezeichnete Literatur läßt sich nach verschiedenen Kriterien sinnvoll weiter unterteilen. Reinhard Jahn, Krimi-Autor und Mitbegründer des Bochumer Krimi-Archivs‚ liefert eine Typologie des Kriminal-Romans und zeigt aktuelle Entwicklungen auf.

Faktenstand: 1995 / Erstveröffentlichung:
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14.Juni 1995, Seite 78-80

Die Wurzeln des Genres sind von der Literaturwissenschaft in frühen Verbrechenschroniken‚ Räuber- und Schauerromane und den Schriften der Aufklärung aufgespürt worden, sein erster Meilenstein erschien im April 184l in »Grahams Magazine«: Edgar Allan Poes Story »The Murders in the Rue Morgue« enthält alle Elemente, die einen »Krimi« prägen: Ein geheimnisvolles Verbrechen und einen Detektiv, der seinen Umständen und Motiven nachspürt, um es aufzuklären. Poe beleuchtet das Böse aus der Perspektive des rational denkenden Menschen, seine Geschichte ist die einer »Detektion«, einer Aufklärung mit den Mitteln eines scharfen Geistes und der Logik.

Detektiv-Geschichten: Die Frage nach dem »Who done it?«


Poe faßte diese Grundkonstellation in eine Form, die später als »Detektivgeschichte« bezeichnet wurde. Das Rätselelement steht im Vordergrund, und sein Detektiv Dupin klärt den Mord an einer Mutter und ihrer Tochter in einem verschlossenen Raum anhand von Indizien und Schlußfolgerungen.
Solche Detektivgeschichten sind eine der drei Säulen des Krimi-Genres, ihre »Wer—war’s?«—Struktur ist inzwischen klassisch. Autoren wie Arthur Conan Doyle und in seiner Nachfolge Agatha Christie perfektionierten das Schema vom komplizierten Verbrechen, das den detektivischen Scharfsinn ihrer Helden Sherlock Holmes und Hercule Poirot herausgefordert hat. Mit einem ausgefeilten Instrumentarium an Indizien, falschen Alibis und toten Spuren wurde im »golden age« der Kriminalliteratur ein intellektuelles Versteckspiel vor dem Leser inszeniert. Nachdem gegen Ende der fünfziger Jahre alle Variationen durchgespielt erschienen, verloren die »whodunnits« (von »Who has done it?«) an Bedeutung und nahmen bis zu ihrer Wiederbelebung in jüngster Zeit ihren Platz im Repertoire des Genres ein.

Thriller: Vom »Whodunnit?« zum »How get them?«


Gehen die klassischen Detektivgeschichten noch davon aus, daß der Mensch an sich logisch denkt und handelt und deshalb einem Verbrecher seine Tat auch mit reiner Logik nachgewiesen werden kann, so zeichnen die sie ablösenden Thriller ein ganz anderes Bild. In Dashiell Hammetts »Bluternte« (1929) ist das Verbrechen nicht mehr die aufsehenerregende, ausgetüftelte Tat,sondern eher das alltägliche Geschehen.
Der Held eines Thrillers erhebt sich zwar durch seine moralische Einstellung über das Böse, macht sich aber bei seincr Bekämpfung auch ohne weiteres dessen Strategien zu eigen. Gewalt ist an der Tagesordnung, kaum jemand ist ohne Schuld.

Die Story wird im Thriller nicht mehr von dem Rätsel des »Wer war’s?« vorangetrieben, sondern von der Frage, wie der Held das Böse in seinem Sinne besiegt. Gedankenkombination wird von Aktion abgelöst, aus der intellektuellen Verfolgung wird die Hetzjagd: »How get them?« statt »Whodunnit?«
Die »Thriller«, die Nervenkitzler, die später in Hollywood-Filmen zur »schwarzen Serie« wurden, sind die zweite Säule des Krimis. Keine gescheiten Salonstücke auf britischen Landsitzen, sondern eher Gescllschaftsromane aus der Neuen Welt. Hier dominiert die Zukunftsspannung, das Rätselelement des klassischen Detektivromans taugt nur noch für untergeordnete Spannungsbögen. Die Logik, mit der Meisterdetektive wie Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Lord Peter Wimsey am Ende ihrer Abenteuer im Finale alle Fäden des Mordfalles entwirrten, täuscht beispielsweise Raymond Chandler nur noch als Reminiszenz an das Genre vor, wichtiger ist jetzt der Showdown.

Psycho-Thriller: »Inverted stories« — Der Täter wird zur Identifikationsfigur


Mit der Form des Thrillers hatte sich der Kriminalroman an historische Entwicklungen wie etwa die der Industrialisierung und das Entstehen der Massengesellschaft angepaßt. Eine weitere Anpassung erfolgte dann Mitte des 20 Jahrhundert, als sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse über das Böse im Menschen durchsetzten und man die Motive für Verbrechen einer differenzierten Betrachtung unterzog.
Auf diesem Fundament entstand die dritte Säule des Genres — die der psychologisch orientierten Kriininalromane. Psycho-Thriller wie »Der Fremde im Zug« (1950) und »Der talentierte Mr. Ripley« (1955) der jüngst verstorbenen Patricia Highsmith zeigen archetypisch für diese Gruppe die Entwicklung und Motive eines Verbrechens. Als Identikationsgur wird dem Leser jetzt der Mörder geboten, der Detektiv steht auf einmal als Bedrohung auf der Gegenseite,
Spielt die Geschichte dagegen nicht wie bei den klassischen »Psychos« im gehobenen Bürgertum, sondern in der Unterwelt, hat man es mit Gangsterromanen zu tun, die ihre Handlungsmuster aus der Umkehrung des Thriller-Modells beziehen.

Das Böse ist überall: Agenten- und Spionageromane


Nicht als tragende Säule, aber doch als wichtiger Pfeiler des Kriminalromans sollte man auf jeden Fall noch den Zweig der Agenten- und Spionageromane erwähnen. Mit »Das Rätsel der Sandbank« (1902) von Erskine Childers entwickelte er sich über Polit-Thriller wie Eric Amblers »Die Maske des Dimitrios« (1939) in der Zeit des Kalten Krieges zu Ian Flemings »James-Bond«—Romanen bis hin zu zeitgenössischen Terrorismus-Thrillern wie »Der Schakal« (1971) von Fredrick Forsyth.
Wo Detektivromane und Thriller von Individuen und ihrem Kampf mit dem Bösen erzählen, erheben diese Geschichten den zentralen Konikt auf ideologisches und politisches Niveau.

Aktuelle Trends und Tendenzen: Klassische Detektivkrimis wieder im Kommen


Der Kriminalroman war stets Massenware, er hat wie jedes andere Genre seine eigenen Gesetze, Von denen das wichtigste das Dogma jeder Unterhaltungsliteratur ist: »Du sollst nicht langweilen.«
In einer Mischung aus Traditionalismus und behutsamer Innovation, geplanten Regelverletzungen und ständiger Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und kurzlebige Mode-Trends haben sich bis heute auf der Basis der drei Säulen des Genres eine Reihe von Krimi-Typen herausgebildet, mit der die Autoren das breite Interessenspektrum der Krimifans abdecken.
So erfreut sich nach einer Phase der Stagnation seit einigen Jahren der klassische »Whodunnit« mit seinen zur Identifikation einladenden Detektiven
wieder großer Beliebtheit. Autorinnen wie Ruth Rendell, Martha Grimes und Elizabeth George haben mit ihren Inspektoren Wexford, Jury und Lynley das Erbe von Agatha Christies Poirot und Dorothy Sayers« Lord Peter Wimsey angetreten.

Ebenfalls auf den Spuren des klassischen Detektivkrimis wandeln die Milieuromane, in denen das traditionelle britische Kleinstadt- und Landhaus-Ambiente durch andere Schauplätze wie etwa Universitäten (Amanda Cross), Rennplätze (Dick Francis) oder Anwaltskanzleien (Erle Stanley Gardner) ersetzt wird. Mit religiösem Ambiente und Gedankengut durchsetzt wurde der klassische Krimi bereits mit dem ersten Auftreten von Pater Brown (G. K. Chesterton), heute setzen Pater Koesler (William X. Kienzle) und Rabbi David Small (Harry Kemelmann), diese Tradition fort. Ebenfalls Kleriker ist der Benediktinermönch Bruder Cadfael (Ellis Peters), der seine Mordfälle im l2. Jahrhundert löst und dessen Abenteuer damit zugleich auch in die Gruppe der Epochen- oder Historienkrimis fallen, eine Mischung. die sich seit Umberto Ecos »Der Name der Rose« größter Beliebtheit erfreut.

Als Reaktion auf die Ausweitung von Polizeiorganisationen und die veränderten Bedingungen der Verbrechensbekämpfung entwickelten Autoren aus dem Modell des klassischen Krimis mit seinem Einzelermittler den Polizeiroman, in dem eine
Gruppe sich mit der Lösung zumeist ganz unterschiedlicher, ineinander verschachtelter Fälle befasst. Zum Klassiker dieser »police procedurals« wurde Ed McBains Serie um die Beamten des »87. Polizeireviers«, die in ihren bisher mehr als 40 Bänden die Entwicklung einer amerikanischen Großstadt und die zunehmende Brutalisierung des Alltags von 1956 bis heute beschreibt.

Anpassung an gesellschaftliche Zustände - das organisierte Verbrechen wird Thema


Weniger dynamisch entwickelten sich Thriller der  »hardboiled school« mit ihren Privatdetektiv-Helden. Als Einzelkämpfer in Philip Marlowes Tradition überlebten den kurzen Boom der Privatdetektivromane in den USA der 60er Jahre nur die Serien um »Spenser« von Robert B. Parker, »Amos Walker« von Loren D. Estleman und jene um den namenlosen Detektiv von Bill Pronzini. Der einsame Held im Kampf gegen das Böse wurde mehr und mehr zum Anachronismus, wenn er nicht radikal an die gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst wurde, wie z. B. bei dem Rächer »Burke« von Andrew Vachss. Als Gegenbewegung zum Verfall der zeitgenössischen Privatdetektivromane entstanden die in »klassischer Manier« geschriebenen und im Amerika der 40er Jahre angesiedelten Schnüfflerserien um »Nate Heller« (Max Allan Collins) und »Toby Peters« (Stuart Kaminsky).
Einen Boom erlebten dagegen die Unterweltromane, in denen der Gangster als wahrer Held des 20. Jahrhunderts erscheint und das organisierte Verbrechen mit all seinen Verzweigungen sich in nichts von jedem beliebigen Großkonzern unterscheidet. Zwei der derzeit besten Krimi-Autoren - Elmore Leonard und Tom Kakonis -  haben sich auf diese Spielart des Genres spezialisiert.

Irre und Killer: Im modernen Psyche-Thriller ist das Böse Alltagserscheinung


Als bestes Modell, um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden, hat sich allerdings der Psycho-Thriller erwiesen, dessen derzeit erfolgreichste Abspaltung die aktuellen »Psychopathen-Romane« sind. Das Böse wird, wie etwa in »Stiller Schrecken« («Silent terror«. l986) von James Ellroy, zur Identifikationsfigur oder zumindest wie in den »Hannibal-Lecter-Romanen von Thomas Harris zum übermächtigen Gegenpart der Ermittler, die letztlich erkennen, dass der Mörder, den sie jagen, nur jene dunklen Charakterseiten auslebt, die sie selbst unterdrücken. Das Böse ist nicht mehr Ausnahmeerscheinung, es ist Alltag.



Der europäische Krimi hat erst spät eigenes Profil gewonnen


In Europa haben sich erst im Lauf der letzten 30 Jahre einzelne nationale Krimiszenen mit einigen Subgenres entwickelt. Von denen der französische
»roman noir« als Mischung von Psycho-Thriller und Polizeiroman das bekannteste ist.

Als Fußnote wird dagegen der sozialistische Kriminalroman in die Genregeschichte eingehen, der sich in der ehemaligen DDR entwickelte. In seiner sehr  traditionellen Gestaltung bediente  man sich hier überwiegend der Schablonen des klassischen Detektiv- und Polizeiromans, um sie im Stil des sozialistischen Realismus auszumalen.

Im übrigen deutschen Sprachraum entstand in den 70er-Jahren nach dem Vorbild der »Martin-Beck«—Serie des schwedischen Autorenteams Sjöwall/Wahlöö der sogenannte »Sozio-Krimi« als erste ernstzunehmende Adaption der Genremuster.
Autoren wie -ky‚ Michael Molsner und Friedhelm Werremeier benutzten die Elemente des klassischen Polizei- und Detektivromans als Projektionsfläche, um ihre Theorie von den gesellschaftlichen Ursachen des Verbrechens darzustellen.

Ähnlich verwendeten später nicht nur die deutschen Autorinnen des »Frauenkrimis« die traditionellen Handlungsraster aller Typen des Kriminalromans, um feministische und emanzipatorische Inhalte zu transportieren. Inzwischen hat sich diese Form unter dem Eindruck eines orierenden Marktes zum traditionellen Frauenkrimi entwickelt, der sich lediglich dadurch auszeichnet, dass er in den klassischen Genreformen das männliche Hauptpersonal gegen weibliches austauscht.
Reinhard Jahn

Erstveröffentlichung:
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14. Juni 1995, Seite 78-80

Reinhard Jahn - Zur Typologie des Kriminalromans -
Erstveröffentlichung:
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14. Juni 1995, Seite 78-80
Reinhard Jahn - Zur Typologie des Kriminalromans - Erstveröffentlichung:
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14. Juni 1995, Seite 78-80



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Klassische Detektivkrimis
sind wieder »in« — insbesondere englischsprachige Autorinnen wie Ruth Rendell und Martha Grimes haben dem Genre zu neuer Blüte verholfen

Der europäische Krimi 
hat erst allmählich und unter der nach wie vor bestehenden angloamerikanischen Dominanz ein eigenes Prol entwickelt; er hat dabei häufig bereits erfolgreiche Muster adaptiert



Reinhard Jahn
ist Mitbegründer des seit 1984 bestehenden Bochumer Krimi-Archivs (BKA), das Primär- und Sekundärliteratur zum Thema Krimi sammelt und seit elf Jahren den einzigen Krimis vorbehaltenen Kritikerpreis im deutschen Sprachraum («Deutscher Krimi-Preis »verleiht. — Unter dem Pseudonym H. P. Karr hat Jahn 1992 das »Lexikon der deutschen Krimi-Autoren« auf Diskette veröffentlicht und zuletzt bei Haffmans die Krimis »Geierfrühling« und »Rattensommer« herausgebracht..