23.12.17

Der Mord nach Rezept-Adventskalender
23. Dezember

Die Shortcuts für den 23. Dezember


XXXmas


Shortcuts von H.P. Karr

1
Das erste zaghafte Pulsen der innerstädtischen Verkehrsadern kündigt das Erwachen der Metropole an. Gedankenverloren huschen Vorortzüge durch den anbrechenden Tag. Blinzelnd verlöschen die letzten Straßenlaternen. In der Fußgängerzone vereinsamt ein Christbaum. Lametta verflattert in der der Morgenbrise. Ein Hauch von Schnee liegt in der Luft.
»Weihnachten!«, schweigen die Zeitungen. »Und Frieden auf Erden«, verspricht das Frühsstücksfernsehen. Auf der Treppe zum Bahnhofsklo spritzt sich das Christkind die Tagesration.


2
Sie holten den zweiten Kasten aus dem Kofferraum. Der Schaum schoß aus den Flaschenhälsen. Kalle war schon hinüber und Bernie kurz vorm Austicken. Um den Weihnachtsbaum am Eingang zur Fußgängerzone kam ein Streifenwagen heran.
»Geil!«, brüllte Bernie und schmiß die Flasche genau in die Windschutzscheibe. Der Kaufhausweihnachtsmann ging in Deckung.
Bremsen. Türen klappten. Zwei Grüne.
»Frohe Weihnachten!« Bernie schmiss die nächste Flasche.
Bier auf Blond. Blut auf Grün.
»Stehenbleiben!«, brüllte der andere Grüne.
Kalle mit der nächsten Flasche. Wie er den Arm hochriss.
Die Augen blutunterlaufen.
Etwas Schwarzes in der Hand des Grünen.
Es knallte.
Kalle am Boden. Augen aufgerissen. Blutfaden aus dem Mundwinkel. »Endkrass...«


3
Es war ein gutes Fernglas. Maximale Leistung zu einem vernünftigen Preis. Bei der Adventsauktion bei Ebay.
Bis auf ein halbes Dutzend Fenster war im Turm drüben alles dunkel. Bei der Langhaarigen flackerten die Elektrokerzen am Plastiktannenbaum, der alte Mann nebenan schlief und die beiden schwulen Studenten spielten Nikolaus und Knecht Ruprecht in Latex.
Er kehrte zurück zur Langhaarigen. Sie lag auf der Couch. Volle Brüste, lange Beine. Er seufzte und löste den Gürtel seines Bademantels.

4
Das leise Schnarren des Telefons riß ihn aus dem ersten Schlaf. Während er noch mit der Hand nach dem Hörer tastete, spürte er, wie sich das Zittern aus der Magengrube in immer stärker werdenden Wellen den Weg bahnte in die Brust.
»Nein!«, dachte er und zog die Hand vom Hörer zurück.
Nein, es konnte kein Fehler gewesen sein. Die 100000, von dem Typen, im Hinterzimmer des Cafés. Für gute Zinsen. Kein Fehler im Plan, erst der Laden, dann die Gäste, dann die große Kohle.
Wieder das leise Schnarren des Telefons.
Es konnte doch nicht sein, dass das alles verkehrt gewesen war, Dass der Vermieter ihn abgezockt hatte, dass die Gäste nicht gekommen waren, dass alle nur Kohle wollten.
Besonders der Kerl aus dem Hinterzimmer. Mit Zinsen. Ende der Woche. Sonst... eine Hand glitt über einen Kehlkopf.
Das leise Schnarren des Telefons.
Er bekam auf einmal keine Luft mehr.


5
Er stand am Fenster und starrte hinaus auf die glitzernden Lichtpunkt auf der anderen Seite des Tales. Er hörte sich reden. Im Magen das Gefühl, das er hasste, weil es ihn schwach und hilflos machte.
Sie saß auf der Couch und drehte das Glas mit dem Rest Blanc de blanc in den Händen, während der Terrier unter der Couch im Traum einen Hasen jagte.
»Du verstehst mich nicht«, sagte sie.
Er sagte nichts.
»Du willst mich einfach nicht verstehen!«, sagte sie.
Er sagte nichts.
Sie sah ihn an.
Er hasste Hundeaugen.
Er legte die Hände um ihren Hals. Nichts mehr hören. Nichts mehr denken.
Der Terrier unter der Couch zuckte.
Keine Hundeaugen mehr.


6
Als sie durch den Rauch schon bald die Karten nicht mehr sehen konnten, machte einer das Fenster auf. Draußen im Hof stank ein halbes Dutzend Mülltonnen. Die kühle Luft weckte neue Lebensgeister. Schnee lag in der Luft. In der Ferne bimmelte ein Kaufhaus-Weihnachtsmann mit seiner Glocke. »Ho-Ho-Ho!«
Der Geber riss ein neues Kartenpäckchen auf und mischte. Ließ abheben und verteilte. Augenbrauen wanderten in die Höhe.
»Ho-Ho-Ho«
Lissy brachte von vorn eine neue Runde. Whisky auf Eis. Den Aschenbecher neben dem vertrockneten Weihnachtsgesteck leerte niemand. Aber einer machte das Fenster zu.


7
John Wayne hat sein Gewehr geschultert und geht langsam über die nachtdunkle Straße. Der feuchte Asphalt glänzt in den Lichtinseln der Laternen. Irgendwo kreischen Bremsen.
James Dean klappt den Kragen seines Kamelhaarmantels hoch, die Hände gleiten in die Taschen, er zieht die Schultern etwas hoch.
Regen liegt in der Luft. Dampf aus den Kanalschächten. Lichtaureolen um die Laternen.
Als sie ersten Regentropfen fallen, nimmt John Wayne das Gewehr von der Schulter, und Gene Kelly spannt mit einem Lächeln den Schirm auf.
Über die Dächer gleitet Rudolph das Rentier mit Santa Claus im Schlitten.


8
Nicht bewegen. Liegen bleiben. Da kann einiges kaputtsein, ohne dass man es merkt. Das Kostüm ist natürlich hin. Sie sind einer von diesen Studentenweihnachtsmännern, ja?
Seien Sie froh, dass ich stehen geblieben bin. Ich bin einer von denen, die stehen bleiben. Man muss ja wissen, was passiert ist, nicht wahr?
Wie Sie da liegen, in dem ganzen Blut! Wo kommt das her? Alles aus dem Hinterkopf? Geht das bis auf den Knochen?
Der Wagen hat Sie ja voll mitgenommen. Und einfach weitergerast. Ein Notarzt wär jetzt ganz gut, oder? Irgend jemand müsste mal anrufen. Aber so sind die Leute - da macht keiner einen Finger krumm.
He? Sind Sie tot? Ich hab noch keinen richtigen Toten gesehn. He… am besten Sie bleiben liegen. Und machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin ja bei Ihnen.

ENDE


© bei Autor/Jahn facts&fiction