Operation Stutenkerl
Der Security-Dispatcher schob die Wiener Sängerknaben in den Kassettenschacht und ließ »Süßer die Glocken nie klingen« durch die Hausanlage rieseln. Auf seinen Monitoren in der Sicherheitszentrale hatte er fast die ganze Filiale im Blick. Vor dem Fahrstuhl auf der Verwaltungsetage starrte der Werbeleiter auf das Schild am Lift: AUSSER BETRIEB. Der Chef sah auf seinem Plan nach. Die Fahrstuhlmonteure waren für 13 Uhr bestellt. Um 14 Uhr sollte jemand von der Reinigung die Kostüme der beiden Weihnachtsmänner abholen, die gestern die Kinder beschenkt hatten. Die Kostüme lagen im Sozialraum für die Putzkolonnen. Der Monitor für den Raum war schwarz, seitdem die Putzen die Kameralinse mit Autolack zugesprüht hatten.
Links neben den Monitoren war die letzte »Mitteilung der Konzernleitung« ans Magnetbrett gepinnt: An alle Abteilungen. Auf Grund der wirtschaftlichen Lage...«
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»...können wir in diesem Jahr keine Weihnachtsgrafikation zahlen!« Die kleine Rothaarige in der Buchhaltung pappte muffig den Wochenspeiseplan neben den Aushang am Pinnbrett.
Ihre ältere Kollegin rechnete die Einnahmen aus dem ersten Kassendurchgang zusammen. Ein Lederbeutel mit Geld lag im offenen Panzerschrank. Über der Tür blinkte die Überwachungskamera. Die Kollegin schob das Formular zum Gegenzeichnen über den Tisch.
»Wie viel?«, fragte der Hauptbuchhalter.
»Mindestens drei Monate Karibik für uns alle.«
Die kleine Rothaarige vergaß für eine Sekunde, ihre Fingernägel weiter schwarz zu lackieren.
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Der Christengel behielt die Kids an den CD-Stapeln im Auge. Noch zwei Ladendiebe, und sie hätte ihr Wochensoll erreicht. Mit etwas Glück schaffte sie sogar den Schlitzer aus der Damenoberbekleidung. Dann war die Prämie fällig. Der Schaden, den der Typ mit seinem Rasiermesser angerichtet hatte, war mittlerweile fünfstellig.
Drüben bei den Schreibwaren stand Balthasar; Caspar kontrollierte die Parfümerie. Melchior, der schwarze Aushilfsdetektiv, achtete darauf, ob die Aushilfskassiererinnen Schmugeld machten. Seit der Mitteilung der Konzernleitung letzte Woche war die Stimmung auf dem Nullpunkt. Der Christengel rückte sein Silberhaar zurecht und steuerte den Lift an. AUSSER BETRIEB. Fluchend nahm sie die Rolltreppe. Ihr Umhang mit den Engelflügeln flatterte. Wenn schon kein Weihnachtsgeld, dann wenigstens die Prämie für den Schlitzer.
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Der Security-Dispatcher ließ sich zur Mittagspause nur einen Stutenkerl aus dem Bistro hochschicken. Auf dem Monitor für die Buchhaltung legte der Hauptbuchhalter die Beine hoch. Seine beiden Kolleginnen waren noch zu Tisch. Auf dem Monitor von Eingang C kamen die Fahrstuhlmonteure an.
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Der Christengel behielt den Weihnachtsmann im Auge. Seit drei Minuten stand er neben dem Display für das Xmas-Invaders-Computerspiel an der Gondel mit den Spielzeugpistolen. Die roten Bäckchen seiner Gesichtsmaske glänzten. Der Christengel holte vorsichtshalber ihre Handschellen aus dem silberbestickten Handtäschchen. Der Weihnachtsmann drehte sich um und stiefelte zur Personaltür neben dem Fahrstuhl.
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Dem Security-Dispatcher blieb sein Stutenkerl um Hals stecken. Auf dem Buchhaltungsmonitor hielt ein Weihnachtsmann dem Hauptbuchhalter eine großkalbrige Knarre an den Kopf. Ein zweiter Weihnachtsmann zerrte den Geldbeutel aus dem Tresor. Der erste Weihnachtsmann zwang den Hauptbuchhalter, ein Blatt in die Kamera zu halten. »Überfall!«, las der Dispatcher. »Kein Alarm! Sonst Bombe!«
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Der Weihnachtsmann hielt ein Päckchen hoch, an dem ein Reisewecker aus der Aktionsware »Zeit für's Christkind« befestigt war. Unterdessen verschnürte der kleinere Weihnachtsmann den Hauptbuchhalter mit einer Rolle Paketklebeband. Die Weihnachtsmänner verschwanden vom Buchhaltungsmonitor und tauchten auf dem Gang-Monitor auf. Der Chef zögerte, dann griff er zum seinem Mikrofon.
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Das war er. Der Christengel behielt den Schlitzer im Auge. Eine Bolerojacke für 756 Euro hatte er schon geschlitzt. Der Typ mit der roten Bommel-Mütze umkreiste den Ständer mit den Abendkleidern. Das Rasiermesser blitzte. Der Christengel schwang die Handschellen. »Stehenbleiben, Sicherheitsdienst!«
Der Schlitzer wirbelte herum und schlitzte dabei den Umhang des Christengels. Dann stürzte er zu den Fahrstühlen.
* * * »An alle«, knackte es im Ohr des Christengels. »Zwei Weihnachtsmänner. Aufhalten. Vorsicht, bewaffnet.«
Der Schlitzer war vor dem Fahrstuhl, als die beiden Weihnachtsmänner aus der Tür zum Treppenhaus stürzten und das AUSSER BETRIEB-Schild umrissen.
* * * »Stehenbleiben!« Dem Christengel brach der Schweiß aus. »Alle drei.«
Der dickere Weihnachtsmann riss eine Pistole hoch. Der Schlitzer brüllte »Ihr kriegt mich nicht!«, wirbelte mit dem Rasiermesser herum und schlitzte den Ledersack auf, den der kleine Weihnachtsmann vor seiner Brust festhielt. Neben ihm ging die Fahrstuhltür auf und der Schlitzer stürzte los.
* * * Während der Christengel noch dem langen Schrei des Schlitzers aus dem Fahrstuhlschacht nachlauschte, wurde ihm klar, warum ihm die Pistole des dicken Weihnachtsmannes so bekannt vorkam: es war die Spykiller, die sie bei den Spielwaren für 9,95 verkauften.
Aus dem Treppenhaus japsten Caspar, Melchior und Balthasar heraus; die Weihnachtsmänner rasten in Richtung Rolltreppe. Der dicke Weihnachtsmann stolperte und segelte zwischen den Kunden kopfüber die Stufen hinunter. Der Kleine geriet mit dem Mantel in die Stufen und wurde zu Boden gerissen. Der Lederbeutel schlug auf die Balustrade, der Schlitz des Schlitzers verbreiterte sich und dann flatterten Geldscheine durch alle Etagen des Hauses.
* * *
Endlich hatte der Hauptbuchhalter sich ausgewickelt. Verwirrt starrte er auf den abgebrochenen schwarzen Fingernagel am Ende des Paketklebebandes. Der Reisewecker am Bombenpäckchen klickte und spielte »Stille Nacht!«
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Der Security-Dispatcher stöhnte. Auf den Monitoren balgten sich Kunden um die Geldscheine. Er fegte den halbgegessenen Stutenkerl vom Tisch, als er nach dem Mikrofon griff und sich auf die Hausanlage schaltete. Eine Sekunde starrte er auf die Mitteilung der Konzernleitung neben den Monitoren. »Verehrte Kunden, weil es heißt, dass Weihnachten vom Einzelhandel immer mehr kommerzialisiert wird, haben wir beschlossen, ein Zeichen zu setzen. Nicht nur, dass unsere Mitarbeiter keine Weihnachtsgratifikation erhalten - wir beweisen hier und jetzt: Geld bedeutet uns nicht alles.«
Dann stellte er die Wiener Sängerknaben wieder an, nahm die Mitteilung der Konzernleitung ab und wickelte den Rest seines Stutenkerls darin ein.
*** E N D E ***
Karr & Wehner, geboren 1955 und 1949 in Saalfeld und Werdohl, leben im Ruhrgebiet und schrieben bisher zahlreiche Storys, Hörspiele und die »Gonzo«-Thriller »Geierfrühling«, »Rattensommer«, »Hühnerherbst« und »Bullenwinter«. 1996 erhielten sie den Friedrich-Glauser-Preis für den besten Krimi des Jahres und 2000 den Literaturpreis Ruhrgebiet. www.karr-wehner.de
Karr&Wehner:
Operation Stutenkerl
aus: Eiskalt unterm Tannenbaum, hg von Ina Coelen
Krefeld: Leprello 2011
© bei den Autoren/Jahn facts&fiction