"Die Hauptstraße von Schauren war gesperrt. Ich stieg aus und schaute mich um. Kein Mensch zu sehen. Der einzige Weg, der von der Hauptstraße aus zum Polizeirevier führte, war eine Einbahnstraße. Ich musste umkehren. Schließlich repräsentierte ich seit acht Uhr früh den Staat und die Ordnung in Schauren. Ich war spät dran.
Schauren ist ein Grenzfall, eine Grenzstadt - halb deutsch, halb französisch. Auf der französischen Seite geduckte Häuser mit verwahrlosten Vorgärten; auf der deutschen Seite große Häuser mit Geranien in ordentlichen Beeten. Man lebt für sich - ohne nennenswerte Industrie, und, nachdem das französische Militär seinen Horchposten in Grenznähe aufgegeben hat, auch ohne weitere Bedeutung. Polizei? Fehlanzeige - der Polizeiposten wird von den Sergeanten Alain Miller und Louis Strasser verwaltet, ohne Chef und mit französischer Lässigkeit. Kein Problem, denn Verbrechen scheint es in Schauren nicht zu geben. Bis Felix Bollinger kommt.
Schauren galt als ein Musterrevier - nur aufgrund der Statistiken und der wolkigen Berichte. (...) Ein aus München angereister Polizeipsychologe (..) hielt einmal an der Höheren Polizeischule in Saarbrücken einen Vortrag, in dem er auch auf das Schaurener Modell zu sprechen kam. Er versuchte anhand der Erfolge in der Grenzgemeinde zu belegen, dass Polizeiarbeit am besten dezentral und in enger Kooperation mit der Bevölkerung funktionierte. Dass die "Prävention durch Menschlichkeit" den größten Erfolg versprach - so nannte er das. Prévention par l'humanité hieß es auch in Metz.
Soweit die Theorie. In der Praxis wird das Modell Schauren für den in die Etappe weggelobten Kommissar Felix Bollinger zu einem Tripp ins Schattenreich kleinstädtischer Geheimnisse, alter Geschichten und verdrängter Affären. Denn Felix Bollinger fragt da nach, wo sich alle in Schauren aufs Schweigen und Verschweigen verständigt haben. Dabei ist es nicht einmal polizeiliche sondern zunächst nur rein menschliche Neugier, aus der er sich für die Geschichte von Lydia interessiert, der Friseuse, die scheinbar alle Männer in Schauren mit ihrer unschuldigen Weiblichkeit verzaubert hat. Ist ihr Sohn nun das Kind ihres ehemaligen Lehrherrn - der vor Jahren ihretwegen Ruf und Existenz ruiniert hat? Oder steckt eine wesentlich dunklere Familiengeschichte dahinter, eine Geschichte, die mit ihrem Vater, dem eigenbrötlerischen Säufer Lucas aus dem gottverlassenen Nachbarort zu tun hat? Wolfgang Brenner erzählt seinen sanften Krimi als ein Mosaik aus Menschengeschichten. Als Geschichten des Zusammenlebens im Grenzgebiet Schauren, als Geschichte der dauernden Arrangements: zwischen Deutschen und Franzosen, zwischen Männern und Frauen und zwischen der Kleinstadt und der großen Welt. Der Störenfried ist Bollinger, der mit seiner Neugier das sorgfältig austarierte Gleichgewicht von Wissen und Schweigen stört. Aber ehe Felix Bollinger sich mit Schauren arrangieren kann, stirbt der Vater der schönen Friseuse unter dubiosen Umständen und Bollinger muss sich in seinem höchst persönlichen Grenzgebiet zwischen Mensch und Polizist entscheiden, auf welcher Seite er steht:
Jetzt war zu den alten Geschichten auch noch ein Mord dazugekommen. Ein Offizialdelikt. Ausgerechnet in Schauren - dort, wo seit Jahren kein Verbrechen mehr geschehen war. In dem Musterrevier der Vorzeigepolizisten Strasser und Miller. (...) Höchste Zeit, dass ich das Ruder herumwarf und die Sache in die Hand nahm.
Für Bollinger leichter gesagt als getan - aber für mich sehr angenehm zu lesen: wie Wolfgang Brenner mit leichter Hand einen spannenden Krimi aus der Region erzählt - und dabei die meisten selbsternannten Regionalkrimis weit hinter sich lässt. Weil er seine Sache ernst nimmt und sich nicht mit den naheliegenden Krimi-Klischees arrangiert.
Autor: Reinhard Jahn
Produktions-Fassung
vom 25.5.2007 (WDR Gänsehaut)
Wolfgang Brenner
Bollinger und die Friseuse
dtv
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen