Abends, wenn ich hier im Krimi-Archiv mit einem guten Whisky schmökernd in meinem Lesesessel sitze, dann spüre ich manchmal die Angst durch den Raum schleichen – immer dann, wenn es ein besonders guter Krimi ist, den ich gerade lese. Aber nur selten schaffte es ein Buch, mich wirklich so in Angst zu versetzen wie DIE STILLE NACH DEM MORD von Annette Berr.
Es sollte ein Liebesurlaub werden, zu dem Jana Tschaikowskij mit ihrer neuen Freundin Frike ins Kremsiner Land aufgebrochen ist. Es ist März, noch liegt der Winter über der Gegend, das Wetter ist unbeständig und die anderen Ferienhäuser in der gottverlassenen Siedlung stehen leer. Einsamkeit pur, nicht einmal Handyempfang gibt es. Genau das richtige für die beiden Frauen, die nur mit sich sein wollen - bis Jana hohes Fieber bekommt und Frike sich mitten in der Nacht auf den Weg macht zu einem der Bauernhöfe in der Nachbarschaft, um einen Arzt für ihre Freundin zu rufen. Die Landstraße führt den durch Wald, es schneit, man kann kaum die Hand vor Augen sehen, und gerade als Frike sich fragt, ob sie überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen hat, taucht ein Wagen auf...
Der Fahrer versuchte auszuweichen. Frike ließ sich nach rechts fallen - den Bruchteil einer Sekunde zu spät.
Aber Glück im Unglück - Frike ist nichts passiert und der Autofahrer bietet ihr sogar an, sie in den nächsten Ort mitzunehmen. Und kaum habe ich gedacht: "Steig da bloß nicht ein!", da sitzt Frike schon im Wagen.
Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass der Sitz mit einer Schutzhülle aus durchsichtigem Kunststoff überzogen war. Wie praktisch, dachte sie, da kann ich gar nichts schmutzig machen (...) Ihr Blick blieb an etwas hängen, das auf der Ablage der Fahrerseite lag. Sofort war ihr klar, um was es sich dabei handelte, denn sie selbst besaß Dutzende dieser Dinger. Es waren zwei dünne, milchig-durchsichtige Handschuhe aus Vinyl.
Kein Zweifel, Annette Berr hat einen sicheren Instinkt für Spannung, ein Gefühl für Dramaturgie, das sie auf fast keiner der 444 Seiten ihres tiefschwarzen Thrillers verlässt. Sie hat auch ein Gefühl für die Menschen, hier draußen in der Gegend um Kremsin, irgendwo in Brandenburg. Einer Gegend mit weit verstreuten, einsam gelegenen Bauernhöfen, in der das letzte große Verbrechen, über das der Kremsiner Landanzeiger berichtet hat, die Brandstiftung in einer Schweinemästerei war.
Das alles ist Neuland für eine Stadtpflanze wie Jana Tschaikowskij, fremdes Terrain voller Fallen und Fußanageln. Kaum genesen meldet sie ihre Freundin vermisst und findet erst einmal Unterschlupf auf dem Bauernhof der Famulie Schuldt. "Geh da nicht hin!" denkt man, weil gerade zuvor noch von Tierverstümmelungen die Rede war, die es dort in der Nachbarschaft gegeben hat, da hält das Schicksal auch schon die nächste dramatsiche Wendung für Jana bereit: eine Frauenleiche wird gefunden und Jana sucht den ermittelnden Kommissar Rettweiler in der Kreisstadt auf, um Gewissheit zu bekommen.
"Aber ich will sie identifizieren."
"Was wollen Sie denn identifizieren?", fragte er eine Spur zu laut. "Der Leichnam hat ja nicht mal einen Kopf!"
Sie zuckte zusammen. Dann jedoch sagte sie, ebenso laut: "Aber der Leichnam wird ja wohl noch einen Körper haben!" Sie konnte ihre Gefühle kaum noch kontrollieren.
Er funkelte sie an. Dann schüttelte er wortlos einige Fotos aus einem A4-Umschlag auf den Schreibtisch.
Sie starrte auf die Bilder.
Momente verstrichen.
Ein winziger Laut der Qual.
Kaum merklich nickte sie.
"Es tut mir leid, Frau Tschaikowskij. Es tut mir so leid."
Frike ist also tot, und ihr Tod hält Jana fest im gottverlassenen Kremsiner Land. Sie will Aufklärung, und die kann sie nur bei den Menschen hier finden. Bei der Familie Schuldt etwa, den wortkargen Bauern, deren Sohn Ole beim Kremsiner Landanzeiger als Readaktionspraktikant arbeitet und in dem sie einen Bruder im Geiste erkennt: Ole liebt Männer, so wie Jana Frauen liebt. Das bleibt nicht das einzige Geheimnis, dem ich als Leser gemeinsam mit Jana Tschaikowskij in diesem opulenten Thriller auf die Spur gekommen bin. Denn Annette Berr erzählt nicht nur die Geschichte des Mordes an Frike, sie erzählt auch Geschichten über die verschiedenen Arten von Liebe und Sexualität, die es hier draußen im Kremsiner Land gibt. Sie tut das teilweise deutlich, sehr deutlich, aber das war es nicht, was mich bei DIE STILLE NACH DEM MORD die Angst hat spüren lassen. Es war auch nicht das schreckliche Verbrechen, dem Janas Freundin zum Opfer gefallen ist, sondern es war Annettes Berrs klarer Blick auf die Menschen, ihre Leidenschaften und Obsessionen, ein Blick, der mich tief in den Abgrund der Liebe hat schauen lassen.
Autor: Reinhard Jahn
Annette Berr
Die Stille nach dem Mord
konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
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