29.3.21

Sieben Meilen vor dem Nirgendwo

Sieben Meilen vor dem Nirgendwo

Von H.P. Karr  

Der Mann auf dem Boot weinte. Er starrte auf die Pistole in seiner Hand, dann wanderte sein Blick über die Reling der Yacht und verlor sich in der See. Sie lagen vor Anker, sieben Seemeilen vor der Küste, abseits aller Schifffahrtsrouten. Sie hatten die Einsamkeit gesucht. Gefunden hatten sie den Tod.
   Die Pistole rutschte ihm aus der Hand, polternd schlug die schwarze Waffe aufs Deck.
   Die Leiche seiner Frau lag vorn auf dem Sonnendeck. Ein kleines, braungerändertes Einschussloch, knapp zehn Zentimeter unter dem linken Schlüsselbein zerstörte ihre Schönheit. Ihre Augen waren geschlossen, vor wenigen Minuten hatte er mit einem sanften Händedruck die Lider über die starren Pupillen geschoben.
   Der Freund lag unten in der Kombüse, jugendlich, braungebrannt. Der Körper war im Todeskampf verkrampft, das Gesicht gezeichnet von den Schmerzen, die das tödliche Gift in seinem Leib verursacht hatte.
   Die Sonne war inzwischen halb versunken. Ein leichter, frischer Wind kam auf und ließ den Mann frösteln. Der Windhauch trocknete die beiden feuchten Spuren, die seine Tränen auf den Wangen hinterlassen hatten.
   Vor drei Tagen waren sie aufgebrochen. Zu zweit, weil die geglaubt hatten, so wieder zueinander finden zu können. Seine Frau war fröhlich und ausgelassen gewesen, als sie den kleinen Hafen verließen und aufs offene Meer hinaussteuerten.
   Nur ein paar Meilen vor der Küste, die schmale Linie der Bergrücken, die sich hinter dem Hafen erhoben, waren noch zu sehen, hatten sie zum ersten Mal geankert. Sie hatten in der Kombüse gekocht, in der Enge der Kabine hatten sie gegessen. Der Mann hatte sie mit völlig neuen, anderen Augen betrachtet und war bereit gewesen, alles zu vergessen. Zu vergessen, was er vor einigen Monaten nur durch Zufall von einem Arbeitskollegen erfahren hatte.
 



Die kleine Motoryacht irgendwo sieben Seemeilen vor irgendeiner Küste ist ein entschieden geeignetere Ort für ein Verbrechen als eine Großstadt wie Essen, mit 600.000 Einwohnern, mit Polizeistreifen, Zivilfahndern, Sitz eines Landgerichtes . Hier draußen, sieben Seemeilen vor dem Nirgendwo, verschwimmen die Dimensionen des Raumes, verlieren sie ihren Maßstab. Hier werden Gefühle zu einer einzigen, gigantischen Triebkraft. Der Schauplatz ist eingezirkelt, die Personen sind festgelegt, das Geheimnis des geschlossenen Raumes kann zelebriert werden. Viel zu alltäglich ist für den Krimi-Autor das, was er am Montag in  Lokalteil seiner Zeitung lesen wird: "Um in seinem Eishockeyclub mithalten zu können, griff der Essener Postoberschaffner Thomas C. in die Postkasse. Rund fünfeinhalbtausend Mark, die er für Nachnahmepakete kassierte, leitete er nicht an seine Behörde weiter, sondern verbrauchte sie binnen zehn Monaten für seine eigenen Zwecke.
   Oder: In seiner Wohnung an der Phönixhütte würgt ein 19-Jähriger seine Mutter im Streit bis zur Bewusstlosigkeit, in Bottrop-Grafenwald geht der Sauna-Pub des Essener Rennfahrers Harald Grohs in Flammen auf.  Man findet   aufgebrochene Türen und leere Benzinkanister. Die Polizei, meldet der Fünfzehn-Zeilen-Bericht, tappt im Dunkeln, der geschädigte Rennfahrer vermutete Brandstiftung und sagt: "Ich tippe auf ein Konkurrenzunternehmen."
   Was in Essen ebenso wie anderswo, in Bochum, Gelsenkirchen, in Bottrop oder in Hattingen und Wattenscheid an Gesetzesverstößen anfällt, ist zu gewöhnlich; zu banal und viel zu oft schon vorgekommen, als dass es einen Krimi-Autor noch auf die Idee bringen könnte, eine Geschichte, einen Roman: oder ein Hörspiel darüber zu schreiben. Wen inspiriert denn schon der Familienstreit, den die beiden Streifenbeamten zu schlichten haben, was ist an der Kneipenschlägerei besonderes, die gegen drei Uhr wegen einer Nichtigkeit ausbricht?
   Die Wirklichkeit schreibt wirklich  nicht die besten Kriminalgeschichten. Da ist es schon interessanter, wieder auf unsere Yacht sieben Seemeilen im Nirgendwo zu blicken, uns für den Mann zu interessieren, dessen Frau tot auf dem Sonnendeck liegt und dessen Freund in der Kabine vergiftet wurde. Was ist passiert? Wer ist es gewesen? Welches Motiv steckt dahinter?

Nach einen kurzen Blick auf die halb versunkene Sonne flogen die Gedanken des Mannes zurück zu den versteckten Andeutungen seiner Arbeitskollegen, den Sticheleien, die seine Eifersucht geweckt hatten, die schließlich zu einem brennenden Hass geworden war, als er entdeckte, dass die Gerüchte, die er aufgeschnappt hatte, der Wahrheit entsprachen.
   Er hatte vergessen wollen, und als er sie in die Arme nahm, während die Yacht gestern  Morgen ausgelaufen war, glaubte er, einen neuen Anfang machen zu können.
   Am nächsten Morgen waren sie von einem heftigen Klopfen: an der Bordwand geweckt worden. Als er nachsah, entdeckte er das Motorboot, das  längsseits gegangen war. Ein junger Italiener  stand am Steuer, und hinten, auf der Sitzbank, saß der Freund. Sportlich, braungebrannt, jungenhaft unbekümmert, bekleidet mit Tennishemd und Shorts.
   Er sei zufälligerweise in der Nähe gewesen, erklärte er. Wolle nur kurz einmal vorbeischauen.
   Ehe der Mann etwas erwidern konnte, hatte sich der Freund schon an Bord geschwungen und dem Italiener die Anweisung gegeben, wieder heimzufahren.
   Die Gedanken des Mannes drehten sich im Kreis. Der Anfang, vor dem er sich geglaubt hatte, schien auf einmal in unendliche Ferne zu rücken. Er hatte die beiden beobachtet, heimlich, seine Frau und den Freund. Als sie sich sicher und ungestört glaubten. Er hatte die leise Stimme seiner Frau gehört, die zwischen Gardinen in den Garten gedrungen war, gemischt mit dem leisen Lachen seines Freundes.
   Des Freundes, der jetzt neben ihm an Bord stand, der ihm auf die Schulter klopfte und nur davon sprach, dass er gern mit ihnen zusammen ein wenig herumfahren wolle. So waren sie weitergefahren, zu dritt. Der Mann am Steuer der Yacht, der Freund unten in der Kabine, zusammen mit der Frau.
   Wenn es fast windstill war und die Yacht nur noch gemächlich dahinglitt, konnte er die beiden Stimmen unten in der Kabine hören.
   Konnte hören und verstehen, ohne dass sie ahnten, wie er sie belauschte. Nach einer Weile hatten sie nicht mehr leise und zärtlich gesprochen, sondern kalt, berechnend. Planend. Über ihn, den Mann, der am Steuer stand.

Was passiert in einem Menschen, bevor er schießt, bevor er in ein Verbrechen verwickelt wird? Dazu wird die Bühne in einer Kriminalgeschichte entworfen, dazu brauchen wir die Yacht und die namenlosen Menschen an Bord. Um die Leidenschaften und die möglichen Zusammenhänge darzustellen. Denn das enthält uns der Polizeibericht aus gutem Grunde vor, weil die wirklichen Täter, die wirklichen Opfer ein Recht haben, zu schweigen. Die Kriminalgeschichte präsentiert uns auf engstem Raum den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, von Motiv und Effekt, von Schuld und Sühne. Der Polizeibericht in der Zeitung liefert nur episodisches, den Erkenntnisstand, niemals das Ganze: "In akuter Lebensgefahr schwebt die 18-jährige Schülerin Eva  G. aus Essen. Wie die Kriminalpolizei am Freitag mitteilte, ist die junge Frau Opfer eines Sexualverbrechens geworden. Die Tat muß nach den bisherigen Ermittlungen am Fronleichnamstag zwischen 2 und 4:30 Uhr geschehen sein. Die 18-jährige konnte bisher nicht vernommen werden; sie liegt auf der Intensivstation der Neurochirurgie im Klinikum. Bevor Eva G. von dem Täter brutal vergewaltigt wurde, war sie am Hals gewürgt worden. Die Kriminalpolizei schließt nicht aus, dass die 18-jährige bleibende Gehirnschäden davontragen wird."
   Das ist  schmutzig, grausam, das ist vor unserer Haustür passiert: Ausgangspunkt für das scheußliche Verbrechen war eine Diskothek an der Steeler Straße. Dort hatte sich Eva nach Mitternacht mit ihrer 20-jährigen Schwester und einigen Bekannten aufgehalten. Die Schwestern verloren sich später aus den Augen. Die 20-Jährige wurde unruhig, als sie ihre Schwester in dem Lokal nicht mehr entdecken konnte, obwohl deren Sachen noch auf dem Tisch lagen."
   Diese Ereignisse zum Gegenstand einer Geschichte zu machen ist Aufgabe eines Journalisten, sie ist zu realistisch und zu aufschlussreich, als dass sie noch den unterhaltsamen thrill eines Krimis entwickeln könnte. Denn wir wissen genau, was wir von einem Krimi zu erwarten haben: ein Gedankenspiel, das sich an feste Formen hält, an die Guten  und die Bösen, an Recht und Gerechtigkeit. Wir erwarten, dass er in der Realität angesiedelt ist aber wir erwarten nicht, dass er real ist.

 
Der Mann hatte nie erfahren, was sie unten in der Kabine der Yacht planten, Am frühen Abend, als die Sonne noch über dem Horizont stand, war die Frau heraufgekommen und hatte ihm ein Glas Fruchtsaft gebracht. Dann war sie nach vorn aufs Sonnendeck gegangen, während der Freund langsam aus dem Niedergang an Deck kletterte.
   Der Mann konnte hören, wie sich der Freund hinter ihm bewegte, er hatte einen raschen Schritt zur Seite gemacht, aus einer Intuition heraus. Der Freund hatte die Pistole abgefeuert und wäre der Mann stehengeblieben, hätte ihn die Kugel der Freundes in den Rücken getroffen. So sirrte sie an ihm vorbei und traf seine Frau, die vorn auf dem Sonnendeck gerade ihr Badetuch ausbreitete.
   Der Mann hatte zugeschlagen, aus dem Impuls des Hasses heraus, hatte den Freund am Kinn getroffen. Ohnmächtig war der aufs Deck gesackt. Fünf, vielleicht zehn Minuten hatte der Mann die Szene betrachtet, gelähmt und unfähig zu begreifen, was geschehen war. Dann hatte er den Anker ausgeworfen, das Badetuch über die Leiche seiner Frau gedeckt und versucht, den Freund wieder zu Bewusstsein zu bringen. Er hätte ihm den Fruchtsaft eingeflößt, den ihm seine Frau gebracht hatte. Der junge Mann hatte die Lippen geöffnet, geschluckt, getrunken, war zu Bewusstsein gekommen.
   Dann hatte er gesehen, was er trank, war an die Reling gestürzt, hatte versucht, sich zu erbrechen, doch da war es schon zu spät.
   Das Gift hatte gewirkt, noch während er den Niedergang zur Kabine hinunterwankte, um zum Funkgerät zu gelangen. 7

 

Die Aufklärung, die der Polizeibericht liefert, ist nicht dramatisch, sie konstatiert, was gewesen ist: Ein 22 Jahre alter Mann hat in Essen-Bergerhausen eine 87-jährige Rentnerin mit einem Brotmesser erstochen, um 570 Mark in bar und ein Sparbuch zu rauben. Ein 17- und ein 18-Jähriger sind in Katernberg festgenommen worden, als sie einen PKW aufbrechen wollten. Zwei Jugendliche im Alter von 13 und 15 Jahren wurden festgenommen, als sie Polizei bei der Überprüfung ihrer Mofas feststellte, dass es sich um gestohlene Fahrzeuge handelte. In der Nacht bleibt ein 35jähriger Einbrecher im Kamin eines Verbrauchermarktes stecken und muß von der Feuerwehr befreit werden. Die Täter werden in Untersuchungshaft genommen, dem Haftrichter vorgeführt, die Ermittlungsergebnisse gehen von der Kriminalpolizei zur Staatsanwaltschaft, bis Anklage erhoben wird, bis die Vene stattfindet, vergehen Wochen, Monate.
   So lange möchten wir nicht warten. Wir brauchen die Befriedigung der Sühne sofort, wir möchten den Täter entlarvt und bestraft sehen.
   es soll wieder Ordnung herrschen.
   Das Spiel wird zu Ende gespielt, die Unordnung beseitigt, eine neue, stabile Ordnung geschaffen.

   
Der Mann hatte die Pistole aufgehoben. Er spürte das kühle Metall in seiner Hand. Die Sonne war untergegangen, der Wind wurde kühler. Er starrte auf das tiefschwarze Meer.
   Er weinte nicht mehr.

 
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Es geht um Mord - um scheinbar perfekt ausgetüftelte Morde, um spontane Taten, um tödliche Verbrechen. Von den Nordseeinseln bis zu dem bayerischen Alpen. Es geht um Kommissare, die die richtigen Fragen stellen, um dem Täter am Ende auf die Spur zu kommen - die aber auch manchmal arg danebenliegen. Aber nicht für lange.
Außerdem geht es auch noch um Betrug, Überfall und Raub, um Liebe, Leidenschaft, Gier und Eifersucht. Und für alle Fälle gilt: Abgerechnet wird zum Schluss.


Quellenangabe:
H.P. Karr
Sieben Meilen vor dem Nirgendwo (1153)
veröffentlicht in "jederart", Essener Zeitschrift für Lyrik, Prosa und Grafik, Redaktion: Eka Kempkes, u.a.
©  by author / R.Jahn
Verbreitung nur mit Genehmigung 
 
   
   
   

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