Totenblumen
Von H.P. Karr
Das Grab war gemacht worden. Weiße Lilien lagen vor dem Grabstein.
Eric
Ritter 1979-2012
Vivian
legte ihren Blumenstrauß aufs Grab. Der Friedhof von Hüls vor den Toren von
Krefeld lag still im Abendlicht. Ein leichter Herbstwind ließ die Blätter
rascheln. Vor vier Wochen, als sie aus den USA zurückgekommen war, hatte sie
zum ersten Mal festgestellt, dass Erics Grab gepflegt wurde.
Von
wem?
Immer
lagen weiße Lilien vor dem Grabstein. Totenblumen. Eric war damals um halb neun
am Abend auf seiner Joggingstrecke am Hülser Berg von einem Wagen überrollt
worden. Unfall mit Fahrerflucht, meinte die Polizei.
Vivian
war sicher, dass Eric ermordet worden war, doch Kommissar Brenner hatte sich
scheinbar nicht um ihren Verdacht gekümmert. Dann hatte die Firma sie für ein
Jahr in ihre Filiale in den USA geschickt. Sie hatte nichts dagegen, weil es
nichts mehr gab, was sie in Krefeld hielt. Eric und sie hatten heiraten wollen
- er war Forschungsleiter bei dem großen Konzern in Krefeld gewesen, bei dem
Vivian als Fachübersetzerin arbeitete.
Als
die Frau im schwarzen Mantel auftauchte, zuckte sie zusammen. Helga! Die große,
sportliche Blondine hatte einen Strauß Lilien dabei.
»Hallo,
Vivian!« Helga legte die Blumen aufs Grab.
Vivian
räusperte sich. »Warum bist du …«
»Du
weißt doch, dass Eric und ich uns sehr nahe gestanden haben«, sagte Helga kühl.
Sie war mit Eric zusammengewesen, ehe er Vivian kennenlernte. Und Vivian
erinnerte sich nur zu gut daran, wie Eric unter den Szenen gelitten hatte, die
sie ihm bei der Trennung machte.
»Aber
sie muss sich damit abfinden«, hatte Eric ihr versichert. »Ich liebe nur dich,
Vivian!«
Es war
still auf dem Friedhof. Außer einem Mann, der hinten am schmiedeeisernen Tor
zur Tönisberger Straße stand, war niemand zu sehen.
»Du
verstehst doch, dass ich ihn nicht gehen lassen konnte«, sagte Helga. »Eric
gehörte zu mir.«
Ein
entsetzlicher Gedanke schoss Vivian durch den Kopf. »Was sagst du da?« Helga
lebte hier in Hüls, ganz in der Nähe von Erics Joggingstrecke. Und sie war eine
leidenschaftliche Frau. Leidenschaft und Unbeherrschtheit lagen nah
beieinander. Genau wie Liebe und Hass.
»Sein
Unfall …«, sagte Vivian. Plötzlich war ihr alles klar. »Du hast ...«
»Ich
hab ihn auf einmal vor mir gesehen, beim Joggen«, zischte Helga. »Es war
dunkel, und ich hatte nur ausnahmsweise die Strecke genommen ...« Sie kicherte
böse. »Wenn ich ihn nicht haben konnte - dann solltest du ihn auch nicht
haben!«
Der
Mann vom Tor kam heran. Er trug eine Art Uniform.
»Kommen
Sie?«, sagte er zu Helga.
»Sie
ist eine Mörderin!«, schrie Vivian.
»Ich
weiß«, sagte der Mann. »Sie hat ihren Ex-Lebensgefährten überfahren. Es hat
lange gedauert, bis Kommissar Brenner sie überführen konnte. Zehn Jahre hat sie
bekommen. Und weil sie sich gut führt, hat der Direktor der Frauen-JVA Willich
ihr einmal im Monat Ausgang gewährt. Damit sie das Grab pflegen kann.«
Die Sonne verschwand. Es wurde plötzlich
kalt auf dem Friedhof. H.P. Karr:
Totenblumen
auf einen blick Heft 29/2013
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