12.10.21

Krimi der Woche

 Keinen Mucks, Oma!

Allein mit dem Räuber

Von Marek Stein

Hermine Gottlieb nahm das Telefon von der Kommode und stellte es auf den Couchtisch. Sie war siebenundsiebzig und alles ging recht langsam - aber es ging. Deshalb lebte sie auch immer noch allein hier in ihrem Häuschen am Waldrand, obwohl ihr Doktor Schneider riet, in ein Altersheim zu ziehen. Im Radio begannen die Nachrichten.
   »…weiterhin auf der Flucht ist der 25-jährige Jürgen Grote, der heute Vormittag die Bank in Lutterheide überfiel. Grote ist bewaffnet…«
   Hermine fuhr zusammen, als sie den jungen Mann entdeckte, der in der Terrassentür stand und eine Pistole auf sie richtete. Hermine erkannte den Bankräuber sofort. Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. Mit einem Sprung war Grote bei ihr.
   »Keinen Mucks, Oma!« Er stellte das Telefon auf die Kommode. Nach dem vierten Klingeln gab der Anrufer auf.
   »Sie müssen keine Angst vor mir haben«, sagte Hermine. »Ich bin nur eine alte Frau, die ...
   Das Telefon schrillte wieder. »Keinen Mucks!«, schnarrte Grote.
   »Das ist bestimmt Doktor Schneider!«, sagte Hermine. »Ich muss…«
   »Sie müssen gar nichts!«, sagte Grote. »Sie könnten beim Telefonieren versteckte Hinweise geben, dass ich hier bin.« Das Telefon klingelte weiter. Vier Mal, fünf Mal, dann gab der Anrufer auf.
   »Ich bleibe jetzt erstmal hier!«, entschied Grote.
   Es wurde dunkel. Kurz nach sechs tauchte eine Gestalt an der Terrassentür auf. Grote bemerkte sie nicht, weil er mit dem Rücken zur Tür saß. Dann ging alles blitzschnell. Die Tür flog auf, und als Grote herumfuhr, blickte er in die Dienstwaffe von Polizeihauptmeister Dörflein. »Keine Bewegung!«
   Widerstandslos ließ Grote sich Handschellen anlegen, während Dr. Schneider, der mit Dörflein hereingekommen war, Hermine den Puls fühlte.
   »Sie hätten mich telefonieren lassen sollen«, sagte Hermine zu Grote. »Wissen Sie, Dr. Schneider hat für uns Senioren eine Telefonkette eingerichtet. Jeder ruft gegen vier Uhr nach Plan den Nächsten an. Wenn sich jemand nicht meldet, sieht Dr. Schneider nach dem Rechten.«
   »Genau«, sagte Dr. Schneider etwas betreten. »Und die Polizei habe ich mitgenommen, weil ich Angst hatte, dass ich unterwegs dem flüchtigen Bankräuber begegnen könnte.« 


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Drei Kriminalstories

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Marek Stein:
Allein mit dem Räuber
BNN 40/2021vom  9-10-2021
© by author / R.Jahn
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