9.4.18

Krimi der Woche: Eine Frau mit Tic


Eine Frau mit Tic


Von H.P. Karr


»Sie müssen Albert finden«, sagte sie, und ihr rechtes Augenlid zuckte. Annette Bahlsen-Krämer saß auf der Veranda des großen Hauses und alles hätte wunderbar sein können, wenn ihr nicht ihr Mann weggelaufen wäre. Allerdings fragte sich Vicky Kant, was sie als Annettes Anwältin damit zu tun hatte. Sie hatte vor Jahren den Kauf des Hauses beurkundet und sich seitdem nur um juristische Kleinigkeiten gekümmert.
     »Als er ging, sagte er, dass er Zigaretten kaufen wollte«, sagte sie. »Erst später ist mir aufgefallen, dass er überhaupt nicht raucht.«
     Vicky beobachtete fasziniert, wie das rechte Augenlid ihrer Klientin wieder zu zucken begann.
     »Kommen Sie mal mit!« Annette zeigte Vicky die große Modelleisenbahn im Keller. »Ich habe genug Geld. Mein Mann musste nicht arbeiten. Also hat er sich hiermit beschäftigt.«
     Sie schaltete die Anlage ein. Fasziniert beobachtete Vicky, wie sich die Modellzüge über die Gleise bewegten. Albert hatte einen ganzen Ort samt Güterbahnhof aufgebaut. »Weilsheim« stand auf den Modellstraßenschildern.
     »Finden Sie Albert.« Annettes Augenlid zuckte. »Bitte! Er ist doch mein Mann«
     »Ich versuche es«, sagte Vicky und zuckte mit dem Augenlid.
     In dem vierten Modellbahngeschäft, das Vicky am nächsten Tag aufsuchte, wurde sie fündig. »Herr Krämer-Bahlsen, ja«, sagte der Verkäufer. »Ein Top-Kunde. Er hat den Güterbahnhof von Weilsheim nachgebaut.«
     »Nachgebaut?«, fragte Vicky überrascht. »Es gibt den Bahnhof tatsächlich?«
    
     Fasziniert schaute Vicky von der Hügelkuppe. Der wirkliche Bahnhof von Weilsheim glich Alberts Modell wie aufs Haar. Am Rande der Anlage lag das Stellwerk und eine Viertelstunde später stand Vicky neben Albert Krämer-Bahlsen in der Glaskanzel. Mit ihm arbeiteten drei Kollegen hier. »Ist es nicht wunderbar?«, fragte Albert. »Ich habe die Ausbildung als Stellwerks-Assistent mit einem Videokurs übers Internet gemacht! Ich war der beste des ganzen Lehrganges!«
     »Sie konnten ja auch daheim üben«, meinte Vicky.
     »Ich habe jetzt auch eine kleine Wohnung«, sagte Albert. »Und verdiene mein eigenes Geld.«
     »Ihre Frau würde Sie gerne wieder sehen!«, sagte Vicky.
     Albert kratzte sich am Kopf. »Sie … haben bemerkt, dass sie einen Tic hat?«
     »Das rechte Auge«, nickte Vicky.
     »Es hat mich verrückt gemacht«, sagte Albert. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Verrückt, nicht wahr? Bitte verraten Sie Annette nicht, dass Sie mich gefunden haben. Bitte, Frau Kant!«
     Vicky sah ihn an. »Vielleicht haben Sie Recht«, sagte sie.
     »Danke!« Albert drückte Vicky die Hand. Sein rechtes Augenlid begann zu zucken. »Danke, Frau Kant!« Und sein Augenlid zuckte wieder.
 

H.P. Karr präsentiert:
Mord nach Rezept

Band für Band Spannung pur
Kurzkrimis bei amazon









 
H.P. Karr:
Eine Frau mit Tic
Badische neueste Nachrichten
Nr 14 vom 7.4.2018


© by author / Jahn  facts&fiction
Weiterverbreitung nur mit Genehmigung