Eine aufmerksame Nachbarin
Von Ralph Petersen
Es ist kein richtiger Notruf, wegen dem Kommissar Holger Schmitt jetzt kurz vor zehn Uhr abends im Südviertel bei Erna Hoffmann klingelt.
»Ich mache mir Sorgen um meinen Nachbarn, Herrn Scheffler«, sagt die Rentnerin und weist auf den Bungalow nebenan. »Er kam vorhin wie üblich um 21.30 Uhr heim. Sein Buchhalter war bei ihm, Edwin Preiss. Der hat zehn Minuten später hektisch das Haus verlassen.«
Die alte Dame sieht die Skepsis in Holger Schmitts Blick. »Herr Scheffler hat ein Pharma-Labor, er verdient damit sehr gut. Wir unterhalten uns oft im Garten«, erklärt sie und räuspert sich. »Außerdem sind wir beide Krimifans und tauschen immer die Bücher, die wir gerade lesen.«
Der Kommissar umrundet den Bungalow. Alles ist dunkel, die Vorhänge sind vorgezogen. Auf sein Klingeln öffnet niemand. In etwas freier Auslegung der gesetzlichen Vorschriften probiert der Kommissar seine Spezialdietriche und öffnet die Eingangstür.
Er tritt in die dunkle Diele und öffnet die Tür zu seiner Linken. Das Zimmer ist dunkel. Als er den Lichtschalter drückt, flammt eine Deckenleuchte auf. Scheffler liegt mit dem Oberkörper über dem Schreibtisch. Unter seiner rechten Hand liegt ein angefangener Brief, daneben ein Kugelschreiber.
»Ich beende mein Leben ...«, liest der Kommissar.
»Oh mein Gott«, stößt Erna Hoffmann hervor, die ihm ins Haus gefolgt ist. Ob aus Fürsorge oder doch eher aus Neugier, muss erst einmal offen bleiben. Neben dem Telefon stehen ein leeres Wasserglas und ein Medizinfläschchen, dessen Etikett das Logo von Schefflers Labor zeigt.
»Blausäure«, sagt er.
»Bestimmt hat Herr Preiss ihn umgebracht«, sagt die Nachbarin. »Scheffler sagte mir letzthin, dass er den Buchhalter in Verdacht hatte, dass er Firmengelder unterschlug. Er habe da auch schon einige Beweise gesammelt, die er hier in seinem Schreibtisch aufbewahrte.«
Der Kommissar öffnet die Schubladen des Schreibtischs. Die Unterlagen findet er nicht. Aber es ist klar, dass jemand alles durchwühlt hat. »Sie haben recht«, sagt er zu Erna Hoffmeister. »Offenbar hat Preiss vorhin Scheffler vergiftet, um an die Unterlagen zu kommen. Mit dem fingierten Abschiedsbrief hat er versucht, einen Selbstmord vorzutäuschen.«
»Verstehe«, murmelt die Rentnerin. »Als Sie hier ins Zimmer kamen, war das Licht ausgeschaltet. Aber im Stockdunkeln kann niemand einen Abschiedsbrief schreiben.«
Holger Schmitt lächelt. »Besser hätte ich es nicht sagen können.«
Badische neuste Nachrichten 29/2017
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