9.8.16

H.P. Karr:
Krimi-Wende: Totgesagte leben länger (1995)



Totgesagte leben länger oder:
Mit Mord ist ein Geschäft zu machen
von H.P. Karr

Natürlich kann man dem DDR-Krimi eine Menge vorwerfen. Da haben Autoren Geschichten von tapferen MUK-Ermittlern geschrieben, die allzeit entschlossen staatsfeindliche Mörder, Materialdiebe und kapitalistisch-kleinbürgerlich verblendete Spekulanten der sozialistischen Gerechtigkeit zuführten. Da hat sich die Kriminalliteratur, die ja eigentlich ein Produkt der Aufklärung ist, in den Staatsdienst gestellt und political correctness an der Grenze der Selbstverleugnung zelebriert. Denn schließlich sollte sie der "Erziehung des Bevölkerung zum sozialistischen Internationalismus" dienen; sie sollte "gesellschaftliche Aktivität erzeugen" und zur "Unterstützung von Strategie und Taktik der Partei" führen.
War der DDR-Krimi also ein Irrweg des Genres, eine literarische Mutation ohne Überlebenschance im Biotop der freiheitlich-demokratischen Krimi-Kultur?  Natürlich, denn mit dem Verschwinden des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden wurde ihm auch der Humus der Realität entzogen, auf dem er gedieh. Und so sehr die literarische Nomenklatura jenseits von Stacheldraht und Todesstreifen auch trotzig in Parteitagsbeschlüssen auf einer Eigenständigkeit ihrer Krimi-Unterhaltung bestand, so wenig konnten sie ihr jenes wesentliche Charakteristikum entziehen, das den Krimi auch im Rest der Welt entscheidend prägt: dass er sich nämlich auf eine dem Leser bekannte Realität bezieht. Diese Realität mit VEB, HO, FDJ, MfS, KWV, MAS und ABV, mit Exquisit- und Intershop, Broiler, Wink- und Sichtelementen, hat sich fast über Nacht in Nichts aufgelöst und damit schwebten auf einmal auch alle in fast vierzig Jahren geschriebenen Detektivgeschichten im freien Raum, wo sie derzeit mit wachsender Begeisterung von Germanistikstudenten für ihre Magisterarbeiten zum Zwecke der literaturwissenschaftlichen Sektion eingefangen werden. Was an neuen Krimis geschrieben wird, muss sich auf die nicht neudeutsche Gegenwart mit KTU, SEK, MEK, BKA, BfV und KBB, mit ihren Shopping-Malls, Discountern und Junk-Food beziehen.

Aber, sagt man dennoch hier und dort, und ganz besonders östlich vom ehemaligen Todesstreifen, so schlecht war der DDR-Krimi nun doch nicht. Gut, da gab es Anpassung und vorauseilenden Gehorsam, um die Druckgenehmigung vom Kultusministerium und der Abteilung für Kriminalromane im Innenministerium zu erhalten. Da gab es auch die stereotypen Handlungs- und Figurenkonstruktionen, so trocken wie das holzhaltige Papier der Bücher. Aber war da nicht auch das solide Handwerk, mit dem die DDR-Krimiautoren ihre Stücke verfertigt haben?  Eine gewisse Sorgfalt in der Sprache, eine Erzählung, die sich an literarischen Vorbildern orientierte und nicht am fixen Szenen-Zapping der vom Fernsehen verdorbenen West-Kollegen. Und hat man sich als Krimischreiber in der DDR mit Auflagen von bis zu 400.000 Exemplaren pro Titel bei einem Honorar von zehn Prozent und einer 75-prozentigen Nebenrechtsbeteiligung nicht auch wirtschaftlich ganz gut gestanden?
Sicher, da gab es die Lektoren, die ihre Sorgfaltspflicht gegenüber Autor und Manuskript manchmal auch so verstanden, dass sie Themen wie "Stasi" oder "Parteifunktionär als Täter" zu verhindern wussten, aber immerhin, es gab Lektoren, und zwar keine schlechten. Da wurde noch mit dem Autor über das Manuskript gesprochen, redigiert und nachgebessert, was im Schaffensdrang vielleicht etwas schräg zur Papier gekommen war.
So gesehen, war der DDR-Krimi wirklich nicht schlecht und in mancher Beziehung sogar viel besser als mancher zur gleichen Zeit auf dem Boden des Grundgesetzes publizierte Roman. Denn was diesseits von Mauer und Stacheldraht unter dem Gesetz der freien Marktwirtschaft oft an hingerotzten, lamoryanten Geschwafel aus der Feder von Lokaljournalisten, die es der Welt schon immer mal zeigen wollten, den Weg zwischen zwei Paperbackdeckel fand (und findet), verdiente in der Tat die Behandlung, die dem DDR-Krimi zuteil wurde.
Ebenfalls gut zu Gesicht stünde dem BRD-Krimi auch das Selbstbewusstsein einer eigenen literarische Gattung, deren Autoren nicht bei jedem Wort, das sie in ihre Textverarbeitung hacken, den Fernsehbildschirm vor Augen haben, auf dem sie ihren Stoff über kurz oder lang sehen wollen und dem sie deshalb jegliche nicht optisch umsetzbare Erzählfigur von vornherein austreiben.

Auch die Lektoren, die neuerdings zu "Verlagsredakteuren" geworden sind, weil sie sich nur noch mit der Frage beschäftigen, welches Umschlagbild am besten zu einem Buch passt, könnten etwas von der Sorgfalt gebrauchen, mit der man sich in der ehemaligen DDR mit Manuskripten befasst hat. Vielleicht würden dann auch endlich einmal lesbare, nicht nur vor Nullwörtern und Pleonasmen, verrutschten Metaphern, falschen Zeitenfolgen und schrägen Konjunktiven strotzende Romane herauskommen.

Aber die Chance ist wohl verpasst, im Sauseschritt der Wiedervereinigung ist der DDR-Krimi zu hundert Prozent abgewickelt worden. Lektoren und Autoren sind aufgegangen im neudeutschen Einheitsbrei und üben sich in der hohen Kunst der marktwirtschaftlichen Mimikry. Befreit von der Gängelung haben sich die ostdeutschen Autoren nach der Wende in ein paar Büchern den Frust von 40 Jahren Literaturkontrolle von der Seele geschrieben und sich dann dem Westbusiness zugewandt. Wer von ihnen heute noch im Genre arbeitet (und das sind nicht gerade viele der ehemals fast 50 DDR-Krimi-Autoren), der fabriziert genauso schnell jene Sorte von dialogorientiertem schnellgeschnittenem Zapping-Crime und freut sich manchmal mit Tränen in den Augen über den mickrigen Honorarscheck eines deutschen Schmuddelverlegers, mit dem er sich früher wahrscheinlich nicht mal an einen Tisch gesetzt hätte. Nur hier und da flackert in den Romanen der Kollegen aus Neufünfland noch die alte Erzähltradition auf, das genaue und präzise Schildern, das wir in unserer Fernsehgesellschaft als absolut langweilig empfinden. Besserwessis, die wir nun alle mal sind, haben die West-Kollegen sich auch, kaum war die Mauer offen, den Ostgebieten zugewandt und mit heißer Nadel alle Stoffe von Stasi-Seilschaft bis Sozialdepressions-Selbstmord ausgebeutet, die sie so wunderbar pittoresk und "typisch" fanden. Die Fakten, wenn man überhaupt meinte, dass man sie brauchte, gab es ja in der Dauerberieselung des Fernsehens, denn mit der Fernbedienung recherchiert es sich im Müll der Boulevardmagazine am besten. Jetzt, nach fünf Jahren Deutschland, ist auf beiden Seiten die Chance verpasst, irgendetwas zu lernen. Dafür haben wir gekriegt, was wir verdienen. Den gesamtdeutschen Krimi.
 
Glossar  deutsch/deutsch
MUK = Morduntersuchungskommission
VEB = Volkseigener Betrieb
HO = (staatliche) Handelsorganisation
FDJ = Freie deutsche Jugend
MfS = Ministerium für Staatssicherheit
KWV = Kommunale Wohnungsverwaltung
MAS = Maschinenausleihstation
ABV = Abschnittsbevollmächtigter
Broiler = Grillhähnchen
Winkelement = Fähnchen
Sichtelement = Plakat
KTU = Kriminaltechnisches Untersuchungsamt
SEK = Sondereinsatzkommando
MEK = Mobiles Einsatzkommando
BKA = Bundeskriminalamt
BfV = Bundesamt für Verfassungsschutz
KBB = Kontaktbereichsbeamter
Shopping Mall = Ladenzentrum
Junk-Food = niveaulose Nahrungsmittel
 
Baukasten für den Vorwende-Krimi (West):
Fall 1:  A.B.S.: Double Feature (1987, Heyne Verlag):
Die Guten: quotengenau besetzte Fachdirektion Mord der Hamburger Kripo. Die Bösen: raffgierige Familienbande und sexuell verklemmter Beamter. Die Opfer: Behinderter im Rollstuhl, thailändische-Import Frau. Wer ist an allem schuld? Die soziale Wirklichkeit.

Fall 2:
Bernhard Schlink/Walter Popp: Selbs Justiz (1987, Diogenes)
Die böse Gute: Ex-Nazi-Staatsanwalt und heutiger Privatschnüffler. Der gute Böse: Ex-Widerständler und heutiger Chemieboss. Die Frage: Wer war früher und wer ist heute schuld? Die Lösung: Wir haben alle nur unsere Befehle befolgt.
 
Fall 3:
Doris Gercke: Moskau, meine Liebe (1989, Galgenberg)
Die Heldin: Wodkagetränkte und gedichtsverliebte Privatschnüfflerin. Ihr Liebhaber: korrupter Russen-Bulle. Die Szenerie: Moskau under ground. Aromatische Zusatzstoffe: Viel Elend, ein paar Prostituiertenmorde, Alkoholismus. Moral: Perestroika essen Menschen auf.

Fall 4
Frank Göhre: Peter Strohm  Agent für Sonderfälle (1989, Heyne)
Der Bulle: hart, gerecht und noch nicht ganz kaputt. Der Unterweltboss: hart, cool und kaputt. Die Handlung: Wer zuviel redet, stirbt. Das setting: dreckig, dreckig, dreckig. Das Finale: Bulle quittiert den Dienst und kommt in einer Fernsehserie unter.

Fall 5:
ky/Mohr: Schau nicht hin, schau nicht her (September 1989, rororo / Oktober 1989 Mitteldeutscher Verlag)
Die Idee: eine Leiche auf dem DDR-Transit. Die Guten: auf beiden Seiten die üblichen. Die Ermittlung: immer an der Mauer lang. Wiedervereinigung: fand nicht im Roman, sondern in Wirklichkeit statt.
 
Baukasten für einen Vorwende-Krimi (Ost):

Fall 1:
Hans Schneider: Flucht ins Verbrechen (1976, Greifenverlag)
Das Verbrechen: Mauscheleien im Straßenbau, Mord. Der Täter: vom kapitalistischen Gedankengut infizierter Bauunternehmer. Die Guten: Die üblichen tapferen MUK-Ermittler. Grundidee: Wer seinen Marx nicht kennt, wird schnell zum Verbrecher.

Fall 2:
Wolfgang Mittmann: Tatverdacht (1980, Neues Leben)
Die Guten: Der übliche Oberleutnant. Das Delikt: Raubüberfall in einer Schraubenfabrik. Die Verdächtigen: Die Reparaturbrigade. Das Ermittlungsprinzip: Ene mene muh, weg bist du. Der Täter: Ein Angeber. Die Moral: die übliche.

 Fall 3:
Steffen Mohr: Blumen auf der Himmelswiese (1983, Das neue Berlin)
Die Story: Promiske Krankenschwester entdeckt, dass ihre große Liebe ein hinterhältiger Macho ist und weiß sich dann selbst zu helfen. Moral: Frauen und Männer passen auch im realen Sozialismus nicht zusammen.

Fall 4:
Louis Martin: Die Nacht vor dem Urlaub (1984, Das Neue Berlin)
Der Held: der übliche Hauptmann. Der Antiheld: braver Bürger im Strudel des Verbrechens. Die Story: Mann erschlägt den Dieb seiner Autobatterie und versucht, sich ein Alibi zu zimmern. Das Ambiente: realsozialistischer Kleinbürgermuff.
 
Fall 5:
Hans Siebe: Der Hausmeister (1989, Blaulicht Heft 278)
Der Ganove: Ein Hausmeister und Hochstapler. Der Ort: Rügen. Die Story: Mit geklautem Geld wird ein Westwagen angeschafft und auf der Ferieninsel der dicke Max markiert. Das Ende: Tiefe Reue und Rückführung ins Kollektiv.
 
Baukasten für den Wossi-Krimi:

Fall 1:
Peter Cahn: Gen-Crash (1994, Schwarzkopf & Schwarzkopf)
Die Guten: Naive, fortschrittsgläubige Junggenetiker. Die Bösen: Die üblichen Stasi-Altlasten und die üblichen multinationalen Pharmakonzerne. Das Szenario: mutiertes, brandgefährliches Schnupfenvirus gerät außer Kontrolle. Berlin wird aus Quarantänegründen wieder eingemauert.

Fall 2:
-ky: Blut will der Dämon (1993, rororo)
Der Gute: Altdynamischer, in den Osten abgeschobener Westkommissar. Die Bösen: die üblichen Stasi-Seilschaften und geldgeile Westsanierer. Das Szenario: Okkult aufgepepptes Gesellschaftsbild mit kriminalistischem Einschlag. Gimmick: Viele Fontane-Anspielungen.

Fall 3:
Joachim Wohlgemuth: Blutiger Kies (1993, Eulenspiegel)
Die Guten: Phlegmatische in die West-Kripo übernommene Ost-Bullen. Das Delikt: Bankraub mit Mord. Die Story: Bei der Aufklärung kommt ein Alt-Verbrechen zutage. Fazit: Schuld verjährt nicht und das Böse ist überall.

Fall 4:
Jürgen Kehrer: Killer nach Leipzig (1993, Grafit Verlag)
Der Killer: Netter Profi mit solider Berufsauffassung. Die Mission: Der leipziger Konkurrenz das Rotlicht ausblasen. Das Problem: Eine Frau. Die Moral: Hormone sind nicht gut für`s Geschäft.

 Fall 5:
Jacques Berndorf: Eine Reise nach Genf (1993, Goldmann)
Der Anfang: Ein Ministerpräsident geht baden. Die Idee: endlich die Wahrheit. Der Held: tapferer Journalist. Die Bösen: die üblichen Stasis, Verfassungsschützer und Waffenhersteller. Das Handlungsrezept: reisen und reden. Ergebnis: außer Spesen nichts gewesen.
 
Autorennotiz: 
H.P. Karr, 1955 in Thüringen geboren, lebt seit 1960 im Ruhrgebiet. Er ist Mitbegründer des Bochumer Krimi Archivs sowie Verfasser des »Lexikons der deutschen Krimi Autoren« und schmeißt mit Steinen, obwohl er im Glashaus sitzt: er veröffentlichte neben zahlreichen Kriminalhörspielen eine Reihe von Kriminalromanen, zuletzt (gemeinsam mit Walter Wehner) den Thriller »Geierfrühling« (Haffmans Verlag)
Erstveröffentlichung in:
West & Ost – Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit, herausgegeben von Volker Friedrich, Calw, ISSN 0949-1171, Heft 1/1995



West & Ost – Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit,
herausgegeben von Volker Friedrich, Calw, ISSN 0949-1171, Heft 1/1995


West & Ost – Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit,
herausgegeben von Volker Friedrich, Calw, ISSN 0949-1171, Heft 1/1995