Totgesagte leben länger oder:
Mit Mord ist ein Geschäft zu machen
Mit Mord ist ein Geschäft zu machen
von H.P. Karr
Natürlich kann man dem DDR-Krimi
eine Menge vorwerfen. Da haben Autoren Geschichten von tapferen MUK-Ermittlern
geschrieben, die allzeit entschlossen staatsfeindliche Mörder, Materialdiebe
und kapitalistisch-kleinbürgerlich verblendete Spekulanten der sozialistischen
Gerechtigkeit zuführten. Da hat sich die Kriminalliteratur, die ja eigentlich
ein Produkt der Aufklärung ist, in den Staatsdienst gestellt und political
correctness an der Grenze der Selbstverleugnung zelebriert. Denn schließlich
sollte sie der "Erziehung des Bevölkerung zum sozialistischen
Internationalismus" dienen; sie sollte "gesellschaftliche Aktivität
erzeugen" und zur "Unterstützung von Strategie und Taktik der
Partei" führen.
War der DDR-Krimi also ein Irrweg
des Genres, eine literarische Mutation ohne Überlebenschance im Biotop der
freiheitlich-demokratischen Krimi-Kultur?
Natürlich, denn mit dem Verschwinden des ersten sozialistischen Staates
auf deutschem Boden wurde ihm auch der Humus der Realität entzogen, auf dem er
gedieh. Und so sehr die literarische Nomenklatura jenseits von Stacheldraht und
Todesstreifen auch trotzig in Parteitagsbeschlüssen auf einer Eigenständigkeit
ihrer Krimi-Unterhaltung bestand, so wenig konnten sie ihr jenes wesentliche
Charakteristikum entziehen, das den Krimi auch im Rest der Welt entscheidend
prägt: dass er sich nämlich auf eine dem Leser bekannte Realität bezieht. Diese
Realität mit VEB, HO, FDJ, MfS, KWV, MAS und ABV, mit Exquisit- und Intershop,
Broiler, Wink- und Sichtelementen, hat sich fast über Nacht in Nichts aufgelöst
und damit schwebten auf einmal auch alle in fast vierzig Jahren geschriebenen
Detektivgeschichten im freien Raum, wo sie derzeit mit wachsender Begeisterung
von Germanistikstudenten für ihre Magisterarbeiten zum Zwecke der
literaturwissenschaftlichen Sektion eingefangen werden. Was an neuen Krimis
geschrieben wird, muss sich auf die nicht neudeutsche Gegenwart mit KTU, SEK,
MEK, BKA, BfV und KBB, mit ihren Shopping-Malls, Discountern und Junk-Food
beziehen.
Aber, sagt man dennoch hier und
dort, und ganz besonders östlich vom ehemaligen Todesstreifen, so schlecht war
der DDR-Krimi nun doch nicht. Gut, da gab es Anpassung und vorauseilenden
Gehorsam, um die Druckgenehmigung vom Kultusministerium und der Abteilung für
Kriminalromane im Innenministerium zu erhalten. Da gab es auch die stereotypen
Handlungs- und Figurenkonstruktionen, so trocken wie das holzhaltige Papier der
Bücher. Aber war da nicht auch das solide Handwerk, mit dem die
DDR-Krimiautoren ihre Stücke verfertigt haben?
Eine gewisse Sorgfalt in der Sprache, eine Erzählung, die sich an
literarischen Vorbildern orientierte und nicht am fixen Szenen-Zapping der vom
Fernsehen verdorbenen West-Kollegen. Und hat man sich als Krimischreiber in der
DDR mit Auflagen von bis zu 400.000 Exemplaren pro Titel bei einem Honorar von
zehn Prozent und einer 75-prozentigen Nebenrechtsbeteiligung nicht auch
wirtschaftlich ganz gut gestanden?
Sicher, da gab es die Lektoren, die
ihre Sorgfaltspflicht gegenüber Autor und Manuskript manchmal auch so
verstanden, dass sie Themen wie "Stasi" oder "Parteifunktionär
als Täter" zu verhindern wussten, aber immerhin, es gab Lektoren, und zwar
keine schlechten. Da wurde noch mit dem Autor über das Manuskript gesprochen,
redigiert und nachgebessert, was im Schaffensdrang vielleicht etwas schräg zur
Papier gekommen war.
So gesehen, war der DDR-Krimi
wirklich nicht schlecht und in mancher Beziehung sogar viel besser als mancher
zur gleichen Zeit auf dem Boden des Grundgesetzes publizierte Roman. Denn was
diesseits von Mauer und Stacheldraht unter dem Gesetz der freien
Marktwirtschaft oft an hingerotzten, lamoryanten Geschwafel aus der Feder von
Lokaljournalisten, die es der Welt schon immer mal zeigen wollten, den Weg
zwischen zwei Paperbackdeckel fand (und findet), verdiente in der Tat die
Behandlung, die dem DDR-Krimi zuteil wurde.
Ebenfalls gut zu Gesicht stünde dem
BRD-Krimi auch das Selbstbewusstsein einer eigenen literarische Gattung, deren
Autoren nicht bei jedem Wort, das sie in ihre Textverarbeitung hacken, den
Fernsehbildschirm vor Augen haben, auf dem sie ihren Stoff über kurz oder lang
sehen wollen und dem sie deshalb jegliche nicht optisch umsetzbare Erzählfigur
von vornherein austreiben.
Auch die Lektoren, die neuerdings zu
"Verlagsredakteuren" geworden sind, weil sie sich nur noch mit der
Frage beschäftigen, welches Umschlagbild am besten zu einem Buch passt, könnten
etwas von der Sorgfalt gebrauchen, mit der man sich in der ehemaligen DDR mit
Manuskripten befasst hat. Vielleicht würden dann auch endlich einmal lesbare,
nicht nur vor Nullwörtern und Pleonasmen, verrutschten Metaphern, falschen
Zeitenfolgen und schrägen Konjunktiven strotzende Romane herauskommen.
Aber die Chance ist wohl verpasst,
im Sauseschritt der Wiedervereinigung ist der DDR-Krimi zu hundert Prozent
abgewickelt worden. Lektoren und Autoren sind aufgegangen im neudeutschen
Einheitsbrei und üben sich in der hohen Kunst der marktwirtschaftlichen Mimikry.
Befreit von der Gängelung haben sich die ostdeutschen Autoren nach der Wende in
ein paar Büchern den Frust von 40 Jahren Literaturkontrolle von der Seele
geschrieben und sich dann dem Westbusiness zugewandt. Wer von ihnen heute noch
im Genre arbeitet (und das sind nicht gerade viele der ehemals fast 50
DDR-Krimi-Autoren), der fabriziert genauso schnell jene Sorte von
dialogorientiertem schnellgeschnittenem Zapping-Crime und freut sich manchmal
mit Tränen in den Augen über den mickrigen Honorarscheck eines deutschen
Schmuddelverlegers, mit dem er sich früher wahrscheinlich nicht mal an einen
Tisch gesetzt hätte. Nur hier und da flackert in den Romanen der Kollegen aus
Neufünfland noch die alte Erzähltradition auf, das genaue und präzise
Schildern, das wir in unserer Fernsehgesellschaft als absolut langweilig
empfinden. Besserwessis, die wir nun alle mal sind, haben die West-Kollegen
sich auch, kaum war die Mauer offen, den Ostgebieten zugewandt und mit heißer
Nadel alle Stoffe von Stasi-Seilschaft bis Sozialdepressions-Selbstmord
ausgebeutet, die sie so wunderbar pittoresk und "typisch" fanden. Die
Fakten, wenn man überhaupt meinte, dass man sie brauchte, gab es ja in der
Dauerberieselung des Fernsehens, denn mit der Fernbedienung recherchiert es
sich im Müll der Boulevardmagazine am besten. Jetzt, nach fünf Jahren
Deutschland, ist auf beiden Seiten die Chance verpasst, irgendetwas zu lernen.
Dafür haben wir gekriegt, was wir verdienen. Den gesamtdeutschen Krimi.
Glossar deutsch/deutsch
MUK = Morduntersuchungskommission
VEB = Volkseigener Betrieb
HO = (staatliche)
Handelsorganisation
FDJ = Freie deutsche Jugend
MfS = Ministerium für
Staatssicherheit
KWV = Kommunale Wohnungsverwaltung
MAS = Maschinenausleihstation
ABV = Abschnittsbevollmächtigter
Broiler = Grillhähnchen
Winkelement = Fähnchen
Sichtelement = Plakat
KTU = Kriminaltechnisches
Untersuchungsamt
SEK = Sondereinsatzkommando
MEK = Mobiles Einsatzkommando
BKA = Bundeskriminalamt
BfV = Bundesamt für
Verfassungsschutz
KBB = Kontaktbereichsbeamter
Shopping Mall = Ladenzentrum
Junk-Food = niveaulose
Nahrungsmittel
Baukasten für den Vorwende-Krimi
(West):
Fall 1: A.B.S.: Double Feature (1987, Heyne Verlag):
Die Guten: quotengenau besetzte
Fachdirektion Mord der Hamburger Kripo. Die Bösen: raffgierige Familienbande
und sexuell verklemmter Beamter. Die Opfer: Behinderter im Rollstuhl,
thailändische-Import Frau. Wer ist an allem schuld? Die soziale Wirklichkeit.
Fall 2:
Bernhard Schlink/Walter Popp: Selbs
Justiz (1987, Diogenes)
Die böse Gute: Ex-Nazi-Staatsanwalt
und heutiger Privatschnüffler. Der gute Böse: Ex-Widerständler und heutiger
Chemieboss. Die Frage: Wer war früher und wer ist heute schuld? Die Lösung: Wir
haben alle nur unsere Befehle befolgt.
Fall 3:
Doris Gercke: Moskau, meine Liebe
(1989, Galgenberg)
Die Heldin: Wodkagetränkte und
gedichtsverliebte Privatschnüfflerin. Ihr Liebhaber: korrupter Russen-Bulle.
Die Szenerie: Moskau under ground. Aromatische Zusatzstoffe: Viel Elend, ein
paar Prostituiertenmorde, Alkoholismus. Moral: Perestroika essen Menschen auf.
Fall 4
Frank Göhre: Peter Strohm Agent für Sonderfälle (1989, Heyne)
Der Bulle: hart, gerecht und noch
nicht ganz kaputt. Der Unterweltboss: hart, cool und kaputt. Die Handlung: Wer
zuviel redet, stirbt. Das setting: dreckig, dreckig, dreckig. Das Finale: Bulle
quittiert den Dienst und kommt in einer Fernsehserie unter.
Fall 5:
ky/Mohr: Schau nicht hin, schau
nicht her (September 1989, rororo / Oktober 1989 Mitteldeutscher Verlag)
Die Idee: eine Leiche auf dem
DDR-Transit. Die Guten: auf beiden Seiten die üblichen. Die Ermittlung: immer
an der Mauer lang. Wiedervereinigung: fand nicht im Roman, sondern in
Wirklichkeit statt.
Baukasten für einen Vorwende-Krimi
(Ost):
Fall 1:
Hans Schneider: Flucht ins
Verbrechen (1976, Greifenverlag)
Das Verbrechen: Mauscheleien im
Straßenbau, Mord. Der Täter: vom kapitalistischen Gedankengut infizierter
Bauunternehmer. Die Guten: Die üblichen tapferen MUK-Ermittler. Grundidee: Wer
seinen Marx nicht kennt, wird schnell zum Verbrecher.
Fall 2:
Wolfgang Mittmann: Tatverdacht
(1980, Neues Leben)
Die Guten: Der übliche Oberleutnant.
Das Delikt: Raubüberfall in einer Schraubenfabrik. Die Verdächtigen: Die
Reparaturbrigade. Das Ermittlungsprinzip: Ene mene muh, weg bist du. Der Täter:
Ein Angeber. Die Moral: die übliche.
Fall 3:
Steffen Mohr: Blumen auf der
Himmelswiese (1983, Das neue Berlin)
Die Story: Promiske Krankenschwester
entdeckt, dass ihre große Liebe ein hinterhältiger Macho ist und weiß sich dann
selbst zu helfen. Moral: Frauen und Männer passen auch im realen Sozialismus
nicht zusammen.
Fall 4:
Louis Martin: Die Nacht vor dem
Urlaub (1984, Das Neue Berlin)
Der Held: der übliche Hauptmann. Der
Antiheld: braver Bürger im Strudel des Verbrechens. Die Story: Mann erschlägt
den Dieb seiner Autobatterie und versucht, sich ein Alibi zu zimmern. Das
Ambiente: realsozialistischer Kleinbürgermuff.
Fall 5:
Hans Siebe: Der Hausmeister (1989,
Blaulicht Heft 278)
Der Ganove: Ein Hausmeister und
Hochstapler. Der Ort: Rügen. Die Story: Mit geklautem Geld wird ein Westwagen
angeschafft und auf der Ferieninsel der dicke Max markiert. Das Ende: Tiefe
Reue und Rückführung ins Kollektiv.
Baukasten für den Wossi-Krimi:
Fall 1:
Peter Cahn: Gen-Crash (1994,
Schwarzkopf & Schwarzkopf)
Die Guten: Naive, fortschrittsgläubige
Junggenetiker. Die Bösen: Die üblichen Stasi-Altlasten und die üblichen
multinationalen Pharmakonzerne. Das Szenario: mutiertes, brandgefährliches
Schnupfenvirus gerät außer Kontrolle. Berlin wird aus Quarantänegründen wieder
eingemauert.
Fall 2:
-ky: Blut will der Dämon (1993,
rororo)
Der Gute: Altdynamischer, in den
Osten abgeschobener Westkommissar. Die Bösen: die üblichen Stasi-Seilschaften
und geldgeile Westsanierer. Das Szenario: Okkult aufgepepptes Gesellschaftsbild
mit kriminalistischem Einschlag. Gimmick: Viele Fontane-Anspielungen.
Fall 3:
Joachim Wohlgemuth: Blutiger Kies
(1993, Eulenspiegel)
Die Guten: Phlegmatische in die
West-Kripo übernommene Ost-Bullen. Das Delikt: Bankraub mit Mord. Die Story:
Bei der Aufklärung kommt ein Alt-Verbrechen zutage. Fazit: Schuld verjährt
nicht und das Böse ist überall.
Fall 4:
Jürgen Kehrer: Killer nach Leipzig
(1993, Grafit Verlag)
Der Killer: Netter Profi mit solider
Berufsauffassung. Die Mission: Der leipziger Konkurrenz das Rotlicht ausblasen.
Das Problem: Eine Frau. Die Moral: Hormone sind nicht gut für`s Geschäft.
Fall 5:
Jacques Berndorf: Eine Reise nach
Genf (1993, Goldmann)
Der Anfang: Ein Ministerpräsident
geht baden. Die Idee: endlich die Wahrheit. Der Held: tapferer Journalist. Die
Bösen: die üblichen Stasis, Verfassungsschützer und Waffenhersteller. Das
Handlungsrezept: reisen und reden. Ergebnis: außer Spesen nichts gewesen.
Autorennotiz:
H.P. Karr, 1955 in Thüringen
geboren, lebt seit 1960 im Ruhrgebiet. Er ist Mitbegründer des Bochumer Krimi
Archivs sowie Verfasser des »Lexikons der deutschen Krimi Autoren« und schmeißt
mit Steinen, obwohl er im Glashaus sitzt: er veröffentlichte neben zahlreichen
Kriminalhörspielen eine Reihe von Kriminalromanen, zuletzt (gemeinsam mit
Walter Wehner) den Thriller »Geierfrühling« (Haffmans Verlag)
Erstveröffentlichung in:
West & Ost – Beiträge zu
kulturellen und politischen Fragen der Zeit, herausgegeben von Volker
Friedrich, Calw, ISSN 0949-1171, Heft 1/1995
West & Ost – Beiträge zu
kulturellen und politischen Fragen der Zeit,
herausgegeben von Volker Friedrich, Calw, ISSN 0949-1171, Heft 1/1995 |
West & Ost – Beiträge zu
kulturellen und politischen Fragen der Zeit,
herausgegeben von Volker Friedrich, Calw, ISSN 0949-1171, Heft 1/1995 |