2.3.15

Die drei Säulen des Bösen:
Wer wars, wie konnte es passieren und wie kriegen wir sie?

Es geht um das Böse - Kriminalromane erzählen stets von der dunklen Seite des Menschen. Sie erzählen, wie das Böse entsteht, wie es agiert, wie es gejagt, entlarvt und bestraft wird.
Eine kleine Typologie des Kriminalromans.
Von Reinhard Jahn
Achtung:  Faktenstand des Beitrages: 1995

Die Wurzeln des Genres sind von der Literaturwissenschaft in frühen Verbrechenschroniken, Räuber- und Schauerromanen und den Schriften der Aufklärung aufgespürt worden, sein erster Meilenstein erschien im April 1841 in "Graham's Magazine": Edgar Allan Poes Story  "The Murders in the Rue Morgue" enthält alle Elemente, die einen "Krimi" prägen: ein geheimnisvolles Verbrechen und einen Detektiv, der seinen Umständen und Motiven nachspürt um es aufzuklären. Poe beleuchtet das Böse aus der Perspektive des rational denkenden Menschen, seine Geschichte ist die einer "Detektion", einer Aufklärung mit den Mitteln eines scharfen Geistes und der Logik.

Detektivgeschichten: Who has done it?

Poe fasste diese Grundkonstellation in eine Form, die späterhin als "Detektivgeschichte" bezeichnet wurde. Das Rätselelement steht im Vordergrund, und sein Detektiv Dupin klärt den Mord an einer Mutter und ihrer Tochter in einem verschlossenen Raum anhand von Indizien und Schlussfolgerungen. Solche Detektivgeschichten sind eine der drei Säulen des Krimi-Genres, ihre "Wer war's?"-Struktur ist inzwischen klassisch. Autoren wie Arthur Conan Doyle und in seiner Nachfolge Agatha Christie perfektionierten das Schema vom komplizierten Verbrechen, das den detektivischen Scharfsinn ihrer Helden Sherlock Holmes und Hercule Poirot herausgefordert. Mit einem ausgefeilten Instrumentarium an Indizien, falschen Alibis und toten Spuren wurde im "golden age" der Kriminalliteratur ein intellektuelles Versteckspiel vor dem Leser inszeniert. Nachdem gegen Ende der fünfziger Jahre alle Variationen durchgespielt erschienen, verloren die "whodunnits" (von "Who done it?") an Bedeutung und nahmen bis zu ihrer Wiederbelebung in jüngster Zeit ihren Platz im Repertoire des Genres ein.


Thriller: How get them?

Gehen die klassischen Detektivgeschichten noch davon aus, dass der Mensch an sich logisch denkt und handelt und deshalb einem Verbrecher auch mit reiner Logik seine Tat nachgewiesen werden kann, so zeichnen die sie ablösenden Thriller ein ganz anderes Bild. In Dashiell Hammetts "Bluternte" ("Red harvest", 1929) ist das Verbrechen nicht mehr die aufsehenerregende, ausgetüftelte Tat, sondern eher das alltägliche Geschehen. Der Held eines Thrillers erhebt sich zwar - wie besonders Raymond Chandlers Philip Marlowe - durch seine moralische Einstellung über das Böse, macht sich aber bei seiner Bekämpfung auch ohne weiteres dessen Strategien zu eigen. Gewalt ist im Thriller an der Tagesordnung, kaum jemand ist ohne Schuld.
Die Story wird im Thriller nicht mehr von dem Rätsel des "Wer wars?" vorangetrieben, sondern von der Frage, wie der Held das Böse in seinem Sinne (der nicht immer mit des geschriebenen Gesetzes im Einklang stehen muss) besiegt. Gedankenkombination wird von Aktion abgelöst, aus der intellektuellen Verfolgung wird die Hetzjagd: "How get them?" statt "Whodunnit?". 
Die "thriller", die Nervenkitzler der "hardboiled school", die später in Hollywoods Filmen zur "Schwarzen Serie" wurden, sind die zweite Säule des Kriminalromans, keine gescheiten Salonstücke auf britischen Landsitzen, sondern eher Gesellschaftsromane aus der neuen Welt. Hier dominiert die Zukunftsspannung, das Rätselelement des klassischen Detektivromans taugt nur noch für untergeordnete Spannungsbögen. Die Logik, mit der Meisterdetektive wie Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Lord Peter Wimsey am Ende ihrer Abenteuer im Finale alle Fäden des Mordfalles entwirrten, täuscht beispielsweise Raymond Chandler nur noch als Reminiszenz an das Genre vor, wichtiger ist jetzt das showdown.

Psychos: inverted stories

Mit der Form des Thrillers hatte sich der Kriminalroman an historische Entwicklungen wie etwa die der Industrialisierung und dem Entstehen der Massengesellschaft angepasst. Eine weitere Anpassung erfolgte dann in der Mitte dieses Jahrhunderts, als sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse über das Böse im Menschen durchsetzten und man die Motive für Verbrechen einer differenzierten Betrachtung unterzog. Auf diesem Fundament entstand die dritte Säule des Genres, die der psychologisch orientierten Kriminalromane. Psycho-Thriller wie "Der Fremde im Zug" ("Strangers on a train", 1950) und "Der talentierte Mr. Ripley" ("The talented Mr. Ripley", 1955) der jüngst verstorbenen Patricia Highsmith zeigen archetypisch für diese Gruppe die Entwicklung und Motive eines Verbrechens. Als Identifikationsfigur wird dem Leser jetzt der Mörder geboten, der Detektiv steht auf einmal als Bedrohung auf der Gegenseite. Statt "Whodunnit" und "How get them?" jetzt also der Rollentausch in der "inverted story". Spielt die Geschichte dagegen nicht wie bei den klassischen Psychos im gehobenen Bürgertum, sondern in der Unterwelt, hat man es mit Gangsterromanen zu tun, die ihre Handlungsmuster aus der Umkehrung des Thriller-Modells beziehen.

Das Böse ist überall: Spione und Terroristen

Nicht als tragende Säule, aber doch als wichtiger Pfeiler des Kriminalromans sollte man auf jeden Fall noch den Zweig der Agenten- und Spionageromane erwähnen. Mit "Dem Rätsel der Sandbank" ("The riddle of the sands", 1902) von Erskine Childers entwickelte er sich über Polit-Thriller wie Eric Amblers "Die Maske des Dimitrios" ("The mask of Dimitrios", 1939) in der Zeit des Kalten Krieges zu Ian Flemings James Bond-Romanen bis hin zum zeitgenössischem Terrorismus-Thrillern wie "Der Schakal" ("The day of the Jackal", 1971) von Fredrick Forsyth. Wo Detektivromane und Thriller von Individuen und ihrem Kampf mit dem Bösen erzählen, erheben diese Geschichten den zentralen Konflikt auf höchstes ideologisches und politisches Niveau.


Aktuelle Trends und Moden

Der Kriminalroman war stets Massenware, er hat wie jedes andere Genre seine eigenen Gesetze, von denen des wichtigste natürlich das Dogma jeder Unterhaltungsliteratur ist: "Du sollst nicht langweilen."
In einer Mischung aus Traditionalismus und behutsamer Innovation, geplanten Regelverletzungen und ständiger Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und kurzlebige Mode-Trends haben sich bis heute auf der Basis der drei Säulen des Genres eine Reihe von Krimi-Typen herausgebildet, mit der die Autoren das breite Interessensspektrum der Krimifans abdecken.
So erfreut sich nach einer Phase des Stagnation seit einigen Jahren der klassische Whodunnit mit seinen zur Identifikation einladenden Detektiven wieder großer Beliebtheit. Autorinnen wie Ruth Rendell, Martha Grimes und Elizabeth George haben mit ihren Inspektoren Wexford, Jury und Lynley das Erbe von Agatha Christies Poirot und Dorothy Sayers` Lord Peter Wimsey angetreten.
Ebenfalls auf den Spuren des klassischen Detektivkrimis wandeln die Milieuromane, in denen das traditionelle britische Kleinstadt- und Landhaus-Ambiente durch andere Schauplätze wie etwa Universitäten (Amanda Cross), Rennplätze (Dick Francis) oder Anwaltskanzleien (Erle Stanley Gardner) ersetzt wird. Mit religiösen Ambiente und Gedankengut durchsetzt wurde der klassische Krimi bereits mit dem ersten Auftreten von Pater Brown (G.K. Chesterton), heute setzen Pater Koesler (William X. Kienzle) und Rabbi David Small (Harry Kemelmann), diese Tradition fort. Ebenfalls Kleriker ist der Benediktinermönch Bruder Cadfael (Ellis Peters), der seine Mordfälle im 12. Jahrhundert löst und dessen Abenteuer damit zugleich auch in die Gruppe der Epochen- oder Historienkrimis fallen, eine Mischung, die sich seit dem Erfolg von Umberto Ecos "Der Name der Rose" größter Beliebtheit erfreut. Milieukrimis sind nicht zuletzt auch die Ethno-Krimis das Amerikaners Tony Hillerman mit ihren ausführlichen Schilderungen indianischer Kultur.
Als Reaktion auf die Ausweitung von Polizeiorganisationen und die veränderten Bedingungen der Verbrechensbekämpfung entwickelten Autoren aus dem Modell des klassischen Krimis mit seinem Einzelermittler den Polizeiroman, in dem eine Ermittlergruppe sich mit der Lösung zumeist ganz unterschiedlicher, ineinander verschachtelter Fälle befasst. Zum Klassiker dieser "police procedurals" wurde Ed McBains Serie um die Beamten des "87. Polizeireviers", die in ihren bisher mehr als 40 Bänden die Entwicklung einer amerikanischen Großstadt und die zunehmende Brutalisierung des Alltages von 1956 bis heute beschreibt.

Schnüffler und Gangster

Weniger dynamisch entwickelten sich Thriller der hardboiled school mit ihren Privatdetektiv-Helden. Als Einzelkämpfer in Philip Marlowes Tradition überlebten den kurzen Boom der Privatdetektivromane in den USA der 60er Jahre nur die Serien um "Spenser" von Robert B. Parker, "Amos Walker" von Loren D. Estleman und jene um den namenlosen Detektiv von Bill Pronzini. Der einsame Held im Kampf gegen das Böse wurde mehr und mehr zum Anachronismus, wenn er nicht radikal an die gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst wurde, wie dies etwa bei dem Rächer "Burke" von Andrew Vachss geschehen ist. Gleichsam als Gegenbewegung zum Verfall der zeitgenössischen Privatdetektivromane entstanden die in "klassischer Manier" geschriebenen und im Amerika der vierziger Jahre angesiedelten Schnüfflerserien um "Nate Heller" (Max Allan Collins) und "Toby Peters" (Stuart Kaminsky).
Einen Boom erlebten dagegen die Unterweltromane, in denen der Gangster als wahrer Held des 20. Jahrhunderts erscheint und das organisierte Verbrechen mit all seinen Verzweigungen sich in nichts von jedem beliebigen Großkonzern unterscheidet. Zwei der derzeit besten Krimi-Autoren, Elmore Leonard und Tom Kakonis, haben sich auf diese Spielart des Genres spezialisiert und zeichnen in ihren Romanen ein desillusionierendes Bild der zerfallenden westlichen Kultur.

Irre und Killer

Als bestes Modell, um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden, hat sich allerdings der Psycho-Thriller erwiesen, dessen derzeit erfolgreichste Abspaltung die aktuellen "Psychopathen-Romane" sind. Das Böse wird, wie etwa in "Stiller Schrecken" ("Silent terror", 1986) von James Ellroy, zur Identifikationsfigur oder zumindest wie in den beiden Hannibal Lecter-Romanen von Thomas Harris zum übermächtigen Gegenpart der Ermittler, die letztlich erkennen, dass der Mörder den sie jagen, nur jene dunklen Charakterseiten auslebt, die sie selbst unterdrücken. Das Böse, mit dem sich der Kriminalroman von Anfang an befasst hat, ist nicht mehr Ausnahmeerscheinung, sondern es ist Alltag.

Europäisches Einerlei

Aus der Dominanz der auch heute noch angloamerikanisch geprägten Krimiszene haben sich in Europa erst im Lauf der letzten 30 Jahre einzelne nationale Krimiszenen mit einigen Subgenres entwickelt, von denen der französische "roman noir" als Mischung von Psycho-Thriller und Polizeiroman das bekannteste ist. Als Fußnote wird dagegen eher der sozialistische Kriminalroman in die Genregeschichte eingehen, der sich in der ehemaligen DDR unter Aufsicht und Anleitung staatlicher Kulturpolitik entwickelte. In seiner sehr traditionellen Gestaltung bediente man sich hier überwiegend der Schablonen des klassischen Detektiv- und Polizeiromans, um sie im Stil des sozialistischen Realismus auszumalen.
Im übrigen deutschen Sprachraum entstand in den siebziger Jahren nach dem Vorbild der "Martin-Beck"-Serie des schwedischen Autorenteams Sjöwall/Wahlöö der später so genannte "Sozio-Krimi" als erste ernstzunehmende Adaption der Genremuster. Autoren wie -ky, Michael Molsner und Friedhelm Werremeier benutzten die Elemente des klassischen Polizei- und Detektivromans als Projektionsfläche, auf der sie ihre Theorie von den sozialen Ursachen des Verbrechens darzustellen. Ähnlich verwandten später nicht nur die deutschen Autorinnen des "Frauenkrimis" die traditionellen Handlungsraster aller Typen des Kriminalromans, um feministische und emanzipatorische Inhalte zu transportieren. Inzwischen hat sich diese Form unter dem Eindruck eines florierenden Marktes zum traditionellen Frauenkrimi entwickelt, der sich lediglich dadurch auszeichnet, dass er in den klassischen Genreformen das männliche Hauptpersonal gegen weibliches austauscht.

Autorennotiz:
Reinhard Jahn, freier Autor, ist Mitbegründer der "Bochumer Krimi Archivs", in dem Primär- und Sekundärliteratur zum Genre gesammelt wird. Unter seinem Pseudonym "H.P. Karr" veröffentlichte er zahlreiche Stories, Hörspiele und Kriminalromane.

Faktenstand des Beitrages: 1995