5.8.14

Gillian Flynn: Dark Places - Finstere Orte


 Wozu Serienkiller, wenn das Böse doch auch in jedem von uns lebt? Und die Familie die Keimzelle des Verbrechens ist. Gillian Flynn geht mit ihrem neuen Roman dahin, wo der Mord wirklich wehtut.
 Von FOCUS-Online-Autor Reinhard Jahn

Libby Day ist im Mordgeschäft. Libby ist um die 30 und lebt davon, dass sie vor 25 Jahren einem grausamen Familienmassaker entkommen ist. Damals war sie sieben und wurde Ohrenzeugin, wie ein brutaler Killer in das einsam gelegene Farmhaus in Kansas eindrang, ihre beiden Schwestern bestialisch erstach und ihre Mutter erschoß. Und später ihr Bruder Ben als Mörder verhaftet und verurteilt wurde.

Geld für Mord-Souvenirs
 Aber ist Ben wirklich der Täter gewesen? Zweifel sind erlaubt, aber Libby ist das eigentlich egal, solange sie von dem Treuhandfonds leben kann, den mitfühlende Spender seinerzeit mit ihren Spenden für sie, die einzige Überlebende dieses schrecklichen Verbrechens, eingerichtet haben. Bloß: inzwischen sind auch andere schreckliche Morde geschehen, gab es andere bemitleidenswerte Opfer und Hinterbliebene, für die die Menschen jetzt lieber spenden.
Deshalb muss der Treuhandverwalter Libby auch mitteilen, dass das Mitleidsgeld verbraucht ist, das ihr bisher ein passables Leben garantiert hat. Und sie sich am besten ab sofort eine ordentliche Arbeit suchen sollte, wenn sie kein Fall fürs Sozialsystem werden will.
Richtige Arbeit? Das ist nun wirklich nichts für Libby, dafür kokettiert sie viel zu sehr mit ihren verschiedenen Defekten. Antriebslos, kleptoman, egozentrisch - nicht gerade die besten Qualifikationen für einen Job. Aber da gibt es eine Einladung von einer Gruppe von - sagen wir mal - Vebrechensenthusiasten aus dem Fandom für Mord und Totschlag. Sie nennen sich "The Kill Group", sammeln Memorabilien von Serienkillern und tüfteln gern an alten, ungelösten Mordfällen herum. Und möchten deshalb Libby gern als Stargast zu einem ihrer Treffen einladen. Für 500 Dollar. Besser als nichts, sagt sich Libby, und rechnet sich schon mal aus, für wie viel sie den Freaks dann noch ein paar alte Briefe und Fotos ihrer ermordeten Geschwister verkaufen kann
Was Libby dann aus der Bahn wirft: Bei der Kill Group trifft sie gar nicht wenige, die ihren verurteilten Bruder Ben für unschuldig halten. Die sich so in den alten Fall verbissen haben, dass ihre alternativen Mordtheorien durchaus plausibel wirken. Was also, wenn ihr Bruder wirklich nur ein Bauernopfer gewesen ist, der erstbeste und passendste Verdächtige, den die Polizei in Kansas damals auf dem Schirm hatte.
Der Gedanke reißt Libby aus ihrer Lethargie und sie beginnt nachzufragen, nachzuforschen: Was ist damals wirklich gewesen?

Reise in die Vergangenheit
Damit beginnt für Libby eine Reise in die Vergangenheit, zurück an den Tag der Gewalttat, auf die uns Gillian Flynn in ihrem Roman "Finstere Orte" auf eindrucksvolle Weise mitnimmt.
Was geschah damals wirklich auf der Farm in Kansas, auf der sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern mehr schlecht als recht lebte? Sitzt ihr Bruder tatsächlich unschuldig im Gefängnis - und wenn ja: wieso scheint er sich damit abgefunden zu haben?
Gillian Flynn zeichnet ihre Charaktere wie mit dem Rasiermesser - scharf und präzise. Und sie fesselt mit ihrer Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite, indem sie Stück für Stück in einer souveränen Schnitt/Gegenschnitt-Dramaturgie enthüllt, was damals war und was heute daraus geworden ist.
Damals - in Kansas - das war ein Familiendrama erster Güte, die Geschichte einer obsessiven Liebe, in die Libbys Bruder sich verstrickt hatte, eine Familiengeschichte der düsteren Sorte. Weil niemand den Mut zur Wahrheit hatte und die Kleinstadt-Spießer damals in Kansas schneller handelten als dachten.
Heute - das ist die Geschichte von Libby, sie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ihres verpfuschten Lebens herauszieht, indem sie den Blick endlich darauf richtet, wovor sie bislang immer die Augen verschlossen hat: wie sich ihre Familie damals selbst in etwas verstrickt hat, aus dem es nur noch einen Ausweg gab: Mord.
Mit "Cry Baby" hat Gillian Flynn schon einmal bewiesen, wie scharfsichtig sie die mörderischen Irrungen und Wirrungen von Teenagern analysieren kann. Mit "Finstere Orte" zeigt sie, dass die unbestrittene Meisterin des mörderischen Familiendramas ist.

Gillian Flynn
Finstere Orte (Dark Places)
Deutsch von Christine Strüh
Scherz
527 Seiten
16,95 Euro

Tags: Gillian Flynn, Krimi, Familiendrama, Thriller, Farm, Kill group,