Wozu Serienkiller,
wenn das Böse doch auch in jedem von uns lebt? Und die Familie die Keimzelle
des Verbrechens ist. Gillian Flynn geht mit ihrem neuen Roman dahin, wo der
Mord wirklich wehtut.
Von
FOCUS-Online-Autor Reinhard Jahn
Libby Day ist im
Mordgeschäft. Libby ist um die 30 und lebt davon, dass sie vor 25 Jahren einem
grausamen Familienmassaker entkommen ist. Damals war sie sieben und wurde
Ohrenzeugin, wie ein brutaler Killer in das einsam gelegene Farmhaus in Kansas
eindrang, ihre beiden Schwestern bestialisch erstach und ihre Mutter erschoß.
Und später ihr Bruder Ben als Mörder verhaftet und verurteilt wurde.
Geld für
Mord-Souvenirs
Aber ist Ben
wirklich der Täter gewesen? Zweifel sind erlaubt, aber Libby ist das eigentlich
egal, solange sie von dem Treuhandfonds leben kann, den mitfühlende Spender
seinerzeit mit ihren Spenden für sie, die einzige Überlebende dieses
schrecklichen Verbrechens, eingerichtet haben. Bloß: inzwischen sind auch
andere schreckliche Morde geschehen, gab es andere bemitleidenswerte Opfer und
Hinterbliebene, für die die Menschen jetzt lieber spenden.
Deshalb muss der
Treuhandverwalter Libby auch mitteilen, dass das Mitleidsgeld verbraucht ist,
das ihr bisher ein passables Leben garantiert hat. Und sie sich am besten ab
sofort eine ordentliche Arbeit suchen sollte, wenn sie kein Fall fürs
Sozialsystem werden will.
Richtige Arbeit? Das
ist nun wirklich nichts für Libby, dafür kokettiert sie viel zu sehr mit ihren
verschiedenen Defekten. Antriebslos, kleptoman, egozentrisch - nicht gerade die
besten Qualifikationen für einen Job. Aber da gibt es eine Einladung von einer
Gruppe von - sagen wir mal - Vebrechensenthusiasten aus dem Fandom für Mord und
Totschlag. Sie nennen sich "The Kill
Group", sammeln Memorabilien von Serienkillern und tüfteln gern an
alten, ungelösten Mordfällen herum. Und möchten deshalb Libby gern als Stargast
zu einem ihrer Treffen einladen. Für 500 Dollar. Besser als nichts, sagt sich
Libby, und rechnet sich schon mal aus, für wie viel sie den Freaks dann noch
ein paar alte Briefe und Fotos ihrer ermordeten Geschwister verkaufen kann
Was Libby dann aus
der Bahn wirft: Bei der Kill Group
trifft sie gar nicht wenige, die ihren verurteilten Bruder Ben für unschuldig
halten. Die sich so in den alten Fall verbissen haben, dass ihre alternativen
Mordtheorien durchaus plausibel wirken. Was also, wenn ihr Bruder wirklich nur
ein Bauernopfer gewesen ist, der erstbeste und passendste Verdächtige, den die
Polizei in Kansas damals auf dem Schirm hatte.
Der Gedanke reißt
Libby aus ihrer Lethargie und sie beginnt nachzufragen, nachzuforschen: Was ist
damals wirklich gewesen?
Reise in die
Vergangenheit
Damit beginnt für
Libby eine Reise in die Vergangenheit, zurück an den Tag der Gewalttat, auf die
uns Gillian Flynn in ihrem Roman "Finstere Orte" auf eindrucksvolle
Weise mitnimmt.
Was geschah damals
wirklich auf der Farm in Kansas, auf der sie mit ihrer Mutter und ihren
Geschwistern mehr schlecht als recht lebte? Sitzt ihr Bruder tatsächlich
unschuldig im Gefängnis - und wenn ja: wieso scheint er sich damit abgefunden
zu haben?
Gillian Flynn
zeichnet ihre Charaktere wie mit dem Rasiermesser - scharf und präzise. Und sie
fesselt mit ihrer Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite, indem sie
Stück für Stück in einer souveränen Schnitt/Gegenschnitt-Dramaturgie enthüllt,
was damals war und was heute daraus geworden ist.
Damals - in Kansas -
das war ein Familiendrama erster Güte, die Geschichte einer obsessiven Liebe,
in die Libbys Bruder sich verstrickt hatte, eine Familiengeschichte der
düsteren Sorte. Weil niemand den Mut zur Wahrheit hatte und die
Kleinstadt-Spießer damals in Kansas schneller handelten als dachten.
Heute - das ist die
Geschichte von Libby, sie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ihres
verpfuschten Lebens herauszieht, indem sie den Blick endlich darauf richtet,
wovor sie bislang immer die Augen verschlossen hat: wie sich ihre Familie
damals selbst in etwas verstrickt hat, aus dem es nur noch einen Ausweg gab:
Mord.
Mit "Cry
Baby" hat Gillian Flynn schon einmal bewiesen, wie scharfsichtig sie die
mörderischen Irrungen und Wirrungen von Teenagern analysieren kann. Mit
"Finstere Orte" zeigt sie, dass die unbestrittene Meisterin des
mörderischen Familiendramas ist.
Gillian Flynn
Finstere Orte (Dark Places)
Deutsch von
Christine Strüh
Scherz
527 Seiten
16,95 Euro
Tags: Gillian Flynn, Krimi, Familiendrama, Thriller, Farm,
Kill group,