8.4.12

Hanns-Peter Karr: Wer mit dem Leben der anderen spielt


H.P. Karr:
Wer mit dem Leben der anderen spielt
DAS NEUE BLATT 19/75


"Drittes Dezernat, Lippmann!", meldete sich der Kommissar und schaltete routinemäßig das Tonbandgerät ein. "Hallo!", rief er, als sich niemand meldete und trank einen Schluck Kaffee. Es war Montagmorgen, und Lippmann war eben erst ziemlich unausgeschlafen ins Büro gekommen.
"Er ist tot!", sagte eine Frauenstimme. "Er ist tot!"
"Wer ist tot?", fragte der Kommissar plötzlich hellwach. "Wie heißen Sie?"
"Mein Name ist Rieser, Grete Rieser, ich putze bei Herrn Krüger, dem Fernsehreporter. Mein Gott, er liegt tot in seinem Haus in der Schillerstraße."
Abrupt brach die Stimme ab. Kommissar Lippmann hörte nur noch den schweren Atem der Anruferin. Im Hintergrund schlug dumpf und dröhnend eine alte Uhr. Zehnmal. Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Lippmann warf den Hörer auf die Gabel und schaltete das Tonband aus.
"Ziehen Sie den Mantel nicht aus!", rief er seinem Assistenten Paulsen zu, der gerade das Büro betrat. "Wir haben Arbeit!"
Eine Viertelstunde später stoppte der Wagen der Mordkommission vor dem modernen Bungalow. Eine ältere Frau wies den Beamten den Weg. Lutz Krüger lag in dem unordentlich aussehenden Wohnzimmer. Er war erschossen worden. Das Wohnzimmer erinnerte an ein Trümmerfeld. Überall auf den modernen Möbeln standen leere Teller herum, die von einem Büfett stammten, das neben der Terrassentür aufgebaut war. Leere und halbvolle Gläser vervollständigten das Bild.
"Sonntags feierte er!", sagte Grete Rieser von der Tür her. "Ich konnte konnte dann montags immer die Reste wegräumen!"
Der Kommissar erfuhr von der Frau, dass sie einen Haustürschlüssel hatte und gekommen war, um sauberzumachen. "Normalerweise war Herr Krüger dann immer schon fort!" erzählte sie stockend. "Zuerst dachte ich, er schliefe nur seinen Rausch aus, doch dann sah ich das Blut ... "
"Der große Lutz Krüger!", sagte Kriminalassistent Paulsen. "Ich weiß, es gehört sich nicht, aber ich sage trotzdem, dass er ein mieser Kerl war! Wenn ich daran denke, wie er seine Reportagen aufgezogen hat. Zum Beispiel, die mit dem Rauschgiftsüchtigen in der letzten Sendung. Wie er ihn immer mehr in die Enge trieb. Der Junge hat ja nach der Sendung Selbstmord begangen."
"Dann wird Krüger wohl auch im privaten Leben genug Feinde gehabt haben!", brummte Lippmann. Auf der Straße stoppte gerade ein Wagen. Der Fahrer drehte das Seitenfenster herunter und fragte: "Was ist denn hier los?"
"Ein Mordfall!", knurrte Assistent Paulsen. "Fahren Sie weiter. Wir werden den Kerl schon schnappen!"
Doch der Mann stellte den Motor ab und stieg aus. "Ich bin Horst Jung!", stellte er sich vor. "Ich wollte Lutz abholen. Ich bin sein Kameramann. Wir wollten ein paar Aufnahmen machen."
Der Kommissar klärte Jung über Krügers Tod auf und fragte ihn nach der Party in der vergangenen Nacht.
"Ich war auch eingeladen", sagte Jung. "Zuerst war's ganz amüsant. Wir hatten achtzehn Mädchen vom Fernsehballett da, doch die mussten gegen zehn Uhr gehen und zu ein paar Aufnahmen nach Tunis fliegen. Dann waren wir nur noch vier Mann, Krüger, Peter Grote - das ist unser Produzent - Klaus Fein, der Ansager, und natürlich ich. Wir tranken so herum und redeten, bis Lutz auf einmal sagte, er werde seine nächste Reportage über interne Angelegenheiten in der Fernsehanstalt drehen. Und Sie kennen ja seine Reportagen. Ich sage Ihnen, Herr Kommissar, wenn Lutz das alles auf seine Art angeboten hätte, wir hätten die Anstalt schließen können!"
"Das heißt, jeder hätte etwas zu befürchten gehabt?"
Jung nickte. "Klaus Fein zum Beispiel - Frauengeschichten. Ein Verhältnis mit einer Sängerin und Verschiedenes nebenbei. Oder Grote. Man munkelt, dass er mit Fernsehgeldern spekuliert."
"Und Sie?", fragte Lippmann unschuldig.
Jung zuckte mit den Schultern. "Ich verstand mich einigermaßen mit Lutz. Nur über seine Reportagen haben wir gestritten!"
Der Gerichtsmediziner teilte Kommissar Lippmann vertraulich mit, dass Lutz Krüger zwischen Mitternacht und ein Uhr erschossen worden sei.





H.P. Karr:
Wer mit dem Leben der anderen spielt
DAS NEUE BLATT 19/75

Horst Jung fuhr fort: "Krüger, Fein und Grote hatten später eine heftige Auseinandersetzung. Plötzlich wechselte Lutz das Thema. Er sagte, es sei alles nur ein Scherz gewesen, machte eine Flasche Whisky auf, und bald waren wir alle so betrunken, dass wir kaum noch auf den Beinen stehen konnten."
Peter Grote lag noch im Bett. Die Nachricht von Krügers Tod ließ ihn äußerlich vollkommen kalt. "Stimmt!", sagte er. "Wir haben gesoffen, was das Zeug hielt. Ich weiß immer noch nicht, wie ich heimgekommen bin. Ich war voll wie eine Haubitze, Wie hätte ich da noch eine Waffe bedienen können?"
"Wann verließen Sie Krüger?", fragte Lippmann.
"Weiß nicht!", erwiderte Grote. "Meine Uhr war stehengeblieben, und Lutz hat keine in seinem Haus. Außerdem war ich betrunken. Gegen Mitternacht haben wir noch die Tagesschau zum Sendeschluss gesehen. Irgendwann danach sind wir gegangen."
*
Im Gegensatz zu Grote war Klaus Fein nichts von der nächtlichen Sauferei anzumerken. Kommissar Lippmann fand ihn in den Fernsehstudios. Als er von Krügers Tod erfuhr, veränderte sich sein Gesicht schlagartig. So geschmacklos es auch. war - er begann zu grinsen. "Haben Sie den Mörder schon, Kommissar?", fragte er. "Ich möchte ihm gratulieren. Er hat ein gutes Werk getan, als er Krüger umlegte."
"Krügers Enthüllungen hätten peinlich für Sie sein können?", fragte Lippmann.
"Peinlich?" Feins Lachen war nicht echt. "Er wollte seine Popularität heben, indem er auf meinem Rücken einen Skandal inszenierte. Aber daraus wäre nichts geworden. Lydia, das ist meine Freundin, lässt sich noch im nächsten Monat scheiden, um mich zu heiraten."
"Wann und wie kamen Sie in der Nacht nach Hause?"
"Soviel ich weiß in einem Taxi. Ja, so war es. Gegen Mitternacht bestellte Krüger ein Taxi. Er sagte, er habe noch zu arbeiten."
Kommissar Lippmann spürte, dass er sich festfuhr. Zusammen mit Paulsen klapperte er die Taxizentralen ab und machte den Fahrer ausfindig, der die drei Betrunkenen eine Viertelstunde nach Mitternacht gefahren hatte.
"Ganz schön heitere Gesellschaft!", berichtete der verschlafene Mann. "Zuerst stieg der Ansager Klaus Fein in der Akazienallee, eine Viertelstunde von der Schillerstraße entfernt, aus. Die anderen beiden ließen sich bis ans andere Ende der Stadt fahren."
Klaus Fein war der einzige, der die Möglichkeit gehabt hätte, noch in Krügers Haus zurückzukehren und den Reporter zu erschießen. Doch Lippmann brauchte Beweise, und keine Mutmaßungen. Er fuhr in die Akazienallee und klingelte in dem Haus, in dem Fein wohnte, an allen Türen. Die Auskünfte, die er erhielt, entlasteten Fein voll und ganz. Der Ansager hatte sich unmöglich aufgeführt, als er um halb eins ins Haus gekommen war. Er hatte an allen Wohnungen geklingelt und den verschlafenen Bewohnern fröhliche Ostern gewünscht. Erst um zwei Uhr hatte man ihn mit vereinten Kräften in sein Bett verfrachtet.
*
Es wurde Abend. Der Kommissar saß an seinem Schreibtisch und spulte das Tonband zurück. Dann ließ er noch einmal· den Anruf ablaufen.  "Er ist tot", hörte er Grete Riesers Stimme. "Er ist tot." Und dann: "… ich putze bei Lutz Krüger, dem Fernsehreporter … mein Gott, er liegt tot in seinem Haus in der Schillerstraße … " Es folgte nur noch das leise Rauschen und das Schlagen der alten Uhr - wahrscheinlich einer Standuhr.
Ruckartig, richtete Lippmann sich auf und spulte erneut zurück. " … er liegt tot in seinem Haus in der Schillerstraße …" Rauschen. Zehnmal schlug die Uhr. Es musste eine dieser alten Standuhren sein. Bisher hatte er angenommen, Grete Rieser habe aus Krügers Wohnung angerufen, nachdem sie die Leiche entdeckt hatte. Aber in Krügers supermodern eingerichtetem Haus gab es keine Uhren, wie Grote gesagt hatte. Und schon gar keine Standuhren. Lippmann glaubte zu wissen, von wo Grete Rieser angerufen hatte und wo die Uhr stand.
*
Grete Rieser wohnte wenige hundert Meter von der Schillerstraße entfernt in einem alten Haus. Im Wohnzimmer entdeckte Lippmann neben der Kommode, auf der das Telefon stand, eine alte Standuhr.
"Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Herr Kommissar!", sagte sie. "Ich wollte es Ihnen schon heute morgen am Telefon sagen, dass ich Krüger umgebracht habe. Wissen Sie, dass der Rauschgiftsüchtige, den er in seiner letzten Sendung zeigte, ein Sohn war? Krüger hat ihn vollkommen zugrunde gerichtet. Bert - mein Sohn-, er wollte aufhören mit dem Gift, aber da kam Krüger. Er bot viel Geld, und Bert sagte zu. Doch dann sah er die . Sendung und erkannte, wie entwürdigend sie war. Er hat sich das Leben genommen. In Wahrheit hat Krüger ihn umgebracht. Ich rief ihn an und sagte, ich käme um Mitternacht. Als die drei Betrunkenen weggefahren waren, ging ich zu ihm. Er lachte mich aus. Da habe ich ihn mit der Pistole, die ich Bert einmal weggenommen habe, erschossen."
ENDE

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