8.8.08

John Katzenbach: Der Patient

Ganz weit hinten hier im Krimi-Archiv stehen sie noch, die Bücher, die mich vor mehr als zwanzig Jahren einen Monat lang um den Schlaf gebracht haben, weil ich sie immer erst weglegen konnte, wenn ich die letzte Seite gelesen hatte - und das war selten vor drei Uhr morgens der Fall. Mehr als zwei Dutzend Krimis haben die Meister des Psycho-Thrillers, der verdrehten Seelenstudien, geschrieben - das Autoren-Team Pierre Boileau und Thomas Narcejac. Die beiden Franzosen waren echte Könner, wenn es um darum geht, ihre Protagonisten und mich als Leser in die Zwischenzone von Wahn und Wirklichkeit zu versetzen. Ihre Stories führen mit immer neuen, cleveren Wendungen ins absolut Unerwartete. So auch in ihrem Roman VERTIGO, den Alfred Hitchcock mit James Stewart und Kim Novak verfilmte.
Und ich bin sicher, wenn Hitchcock jetzt DER PATIENT von John Katzenbach in die Hände fiele - er würde sich umgehend die Filmrechte an dieser Geschichte sichern. An der Geschichte von Dr. Frederick Starks, dem einzelgängerischen New Yorker Psychiater, der am Abend seines 53. Geburtstages im Wartezimmer seiner Praxis-Wohnung auf einem der Stühle einen ganz speziellen Glückwunschbrief findet:

Herzlichen Glückwunsch zum 53. Geburtstag, Herr Doktor.
Willkommen am ersten Tag Ihres Todes.

Nun steht man mit 53 dem Tod in der Tat näher als dem Leben, aber dass die Gratulation kein Scherz ist, sondern eine Drohung, wird Starks klar, als er weiterliest. RUMPELSTILZCHEN nennt sich die mysteriöse Figur, die da so plötzlich unseren unauffälligen, zur Trägheit neigenden Helden aus der Bahn seiner wohlgeordneten Analytiker-Existenz wirft:

Ich existiere irgendwo in Ihrer Vergangenheit.
Sie haben mein Leben zerstört. Auch wenn Sie vielleicht nicht wissen, wie und weshalb oder auch nur, wann, so ist es trotzdem der Fall. (...) Sie haben mein Leben zerstört. Und jetzt bin ich fest entschlossen, Ihres zu zerstören.

Eine Drohung, die Frederick Starks Leben in den nächsten Tagen dramatisch verändert. Er wird lernen, allem und jedem zu misstrauen - ganz besonders sich selbst und seiner Wahrnehmung. Er wird sich fragen, ob sein letzter Patient wirklich selbst vor die U-Bahn gesprungen ist, unter der er starb, oder ob er gestoßen wurde. Er wird ahnen, dass die Klage einer ehemaligen Patientin wegen sexueller Belästigung nicht zufällig gerade jetzt auf seinen Schreibtisch flattert. Und er wird dabei nie sicher sein können, ob die Menschen, mit denen er es zu tun bekommt, nicht ein Teil des Spiels sind, das sein unsichtbarer Gegner ganz allein für ihn inszeniert.

Hier also die Regeln unseres kleinen Spiels: Ab Morgen früh um sechs gebe ich Ihnen genau 15 Tage um herauszufinden, wer ich bin. Wenn Sie es schaffen, müssen Sie eine dieser kleinen Anzeigen unten auf der Titelseite der NEW YORK TIMES schalten und darin meinen Namen drucken lassen. Weiter nichts. Lassen Sie meinen Namen drucken.

Fünfzehn Tage Frist für Frederick. Fünfzehn Tage für die Suche nach RUMPELSTILZCHEN, fünfzehn Tage, die John Katzenbach als Achterbahnfahrt durch alle Stadien der Verzweiflung seines Helden: hinter jeder Ecke lauert eine Überraschung, jede vermeintliche Entdeckung führt nur zu einem neuen Rätsel, jeder Schritt führt ihn nur noch näher an den Abgrund. So souverän wie in DER PATIENT hat mich in der letzten Zeit selten ein Thriller gefesselt. Ein Page-Turner im wahrsten Sinn des Wortes, denn Rumpelstilzchen bringt Frederick Starks in eine wirklich verzweifelte Situation:

Sie werden feststellen, dass auf dem zweiten Blatt dieses Briefes 52 Namen aus Ihrer Verwandtschaft aufgelistet sind. (...) Falls Sie es nicht schaffen, die Anzeige wie oben beschrieben aufzugeben, dann bleibt Ihnen nur eine Wahl: Bringen Sie sich augenblicklich um, oder ich vernichte einen dieser unschuldigen Menschen.
Bringen Sie sich um, Herr Doktor. Springen Sie von einer Brücke. Pusten Sie sich das Hirn mit einer Pistole weg. (...) Suchen Sie sich einen passenden Balken und hängen Sie sich daran auf. Die Methode bleibt ganz Ihnen überlassen.
Doch das ist Ihre beste Chance.

Ein Mensch, der in ein Komplott gerät, von dem er nicht sagen kann, wieviel er sich davon nur einbildet und wieviel davon Wirklichkeit ist. Das ist der Stoff, aus dem auch seinerzeit Boileau und Narcejac ihre Thriller gestrickt haben, und mit der gleichen Eleganz mit der die beiden Franzosen mich seinerzeit auf die Folter spannten, hat mich jetzt John Katzenbach um den Schlaf gebracht. Deshalb ein guter Tipp: Fangen Sie nicht irgendwann nachmittags mit dem Lesen an. Sonst enden Sie so wie ich hier im Krimi-Archiv: erst um halb vier in der Nacht, mit der letzten Seite.
Autor: Reinhard Jahn

John Katzenbach:
Der Patient
(Original: The Analyst)
Knaur Taschenbuch

Keine Kommentare: