Im Krimi-Archiv herrscht Ordnung. Aber mit dem neuen Roman von Gianrico Carofiglio habe ich ein Problem. Ich weiß nicht, in welches Regal ich ihn einordnen soll. Gehört IN FREIEM FALL jetzt gleich neben die Anwalts-Romane von Erle Stanley Gardner bis John Grisham? Oder doch eher in die italienische Ecke?
Denn Guido Guerrieri, Held und Erzähler von Gianrico Carafiglios zweitem auf deutsch erschienenen Krimi, ist Anwalt in Bari, in Apulien. Kein strahlender Perry Mason, sondern ein Feld- Wald- und Wiesen-Verteidiger für kleine und mittlere Gauner. Kein Held des großen Schlußplädoyers, eher einer, der seine Klienten möglichst glatt durch das Dickicht juristischer Verfahrensfragen schleusen will. Und zu allem Übel ein Mann mitten in der Midlifecrisis: seine Frau hat ihn verlassen und was aus der lockeren neuen Beziehung zu seiner Nachbarin Margherita werden wird, weiß er nicht. Aber er beginnt, sich wieder einzurichten in seinem Leben als Forty-Something, fängt wieder an zu boxen, um seine Angstzustände in den Griff bekommen. Also alles halbwegs im grünen Bereich bei Guido. Bis er sich einmal genau im Spiegel ansieht:
Ich betrachtete die Stelle noch einmal genauer. Ja, da waren tatsächlich zwei ganz leichte Schwellungen, genau zwischen Unterlid und Wangenknochen. Tränensäcke, dachte ich wortwörtlich. Scheiße.
Ja, so sieht es aus, das Alter. Ob das also schon alles gewesen ist im Leben?
Versuchsweise zog ich den Fetzen Haut, der so gar nicht mir zu gehören schien, mit dem Finger ein wenig nach unten. Er war nicht elastisch. Er war schlaff wie ein Stück ausgeleierten Gewebes.
Was macht man da? Immer und immer wieder die alten Lou Reed-Platten anhören? Oder versuchen, es sich noch einmal zu beweisen: Dass man ein klasse Anwalt ist. Einer von den Guten, der sich für die SACHE einsetzt und nicht nur fürs Honorar. Einer, der sich etwa für Martina Fumai engagiert im Prozeß gegen ihren Ex-Liebhaber Gianluca Scianatico. Der ist wegen Verfolgung, Bedrängung und Nötigung - sprich: wegen Stalking - seiner Ex-Verlobten angeklagt. Normalerweise ist die Nebenklage in diesem Fall kein Mandat, dessentwegen Guido auch nur eine einzige schlaflose Nacht verbringen würde. Wäre Gianluca nicht ein angesehenes Mitglied der besseren Gesellschaft in Bari und dazu noch Sohn von Richter Scianatico, Vorsitzender des Berufungsgerichts.
Sich mit ihm anzulegen, war so ungefähr das Dümmste, was einem einfallen konnte, wenn man - wie ich - Strafverteidiger in Bari war. (..)
"Kompliment, Guerrieri", sagte ich laut vor mich hin, wie ich es schon als Kind getan hatte, wenn der Lärm der Gedanken in meinem Kopf allzu heftig wurde. "Da hast dir wieder mal was Schönes eingebrockt. Die schicksalhafte Schwelle der vierzig hast du überschritten. Aber dein Talent, dich in Schwierigkeiten aller Art und Größenordnung zu manövrieren, ist ungebrochen. Bravo."
Schwierigkeiten vor allem mit sich selbst, Schwierigkeiten, die Bilanz in der Mitte des Lebens zu ziehen. Was ist aus den Träumen des Jurastudenten Guido geworden, aus den alten Freunden? Hat sich das alles gelohnt? Und: wo steht er jetzt, kann er damit zufrieden sein, dass er nicht der große Starverteidiger ist, sondern nur ein kleiner Advokat mit halbseidener Klientel? Das ist die große Stärke von Gianrico Carofiglios Roman - uns zu erzählen, wie Guido im Lauf des Gerichtsverfahrens mit seinen Problemen zurechtkommt und wie er seine Selbstachtung wiedererlangt, trotz aller Selbstzweifel und Rückschläge.
Ich dachte an das Altwerden, fragte mich, ob ich wohl merken würde, wenn ich so weit war. Ich dachte, dass ich eine Wahnsinnsangst davor hatte. Ich fragte mich, ob ich mit siebzig - sofern ich dieses Alter je erreichte - noch in der Lage sein würde, mich zu wehren, wenn mich auf der Straße jemand überfiel. Ein idiotischer Gedanke, ich weiß. Aber ich dachte genau das, und mir wurde ganz übel vor lauter Angst.
Ein Anwaltsroman der ganz besonderen Sorte also - mit einer auf Sparflamme gehaltenen, aber trotzdem berührenden Prozessgeschichte, die ganz ohne große Plädoyers auskommt. Eine Geschichte, die vom melancholischem Charme ihres Helden lebt, von Guidos sanftem Humor und nicht zuletzt von seiner Leidenschaft für Filme der siebziger Jahre und alte Lou Reed Platten. Und ich denke, damit ist auch mein Problem gelöst, wohin IN FREIEM FALL hier im Krimi-Archiv gehört: In das Regal mit den Krimis für die Generation Vierzig plus.
Autor: Reinhard Jahn
WDR5-GÄNSEHAUT Krimitipp von Reinhard Jahn
Korrigierte Produktions-Fassung 5.3.2007
Gianrico Carofiglio
In freiem Fall
Deutsch von Claudia Schmitt
Goldmann Hardcover
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