Großstadtchronisten
Die Kriminalromane von H.P. Karr und Walter Wehner
Von Ulrich Noller
Der Bahnhofsvorplatz einer Großstadt im Ruhrgebiet.
Hinter der Würstchenbude verdienen Hütchenspieler ihr tägliches Brot. Bei den
Abfallcontainern kippen Arbeitslose Hansa-Pils, direkt dahinter beginnt der
Drogenstrich.
Straßenkinder, Schnorrer, Obdachlose - keine besonders
freundliche Gegend. Und gerade deswegen ist Gonzo Gonschorek mit seiner
Videokamera hier genau an der richtigen Stelle: Gonzo ist freier Kameramann,
ein sogenannter Videogeier.
Die gemeinsame Arbeit der Schriftsteller H.P. Karr und Walter
Wehner ist eine Erfolgsgeschichte mit schleppendem Anfang. 1986 lernten sich
die bei den bei einem Literaturwettbewerb kennen. Spontan beschlossen sie, sich
in Teamwork zu versuchen - und blieben bis heute aneinander kleben. Sie
schrieben Hörspiele, die gesendet wurden, und Kurzgeschichten, die gedruckt
wurden - aber der Durchbruch zur großen Erzählung ließ auf sich warten. Zwei Romane blieben im Versuchsstadium
stecken: jahrelang fahndeten die Autoren nach dem Konzept, das zunächst ein·
mal sie selbst, aber auch Verlage und Leser überzeugen könnte. Dann trat Gonzo
Gonschorek in ihr Leben.
Mit dem Kombi fährt er durch die Stadt und hört den
Polizeifunk ab. Wenn ein Brand, ein Unfall, ein Verbrechen gemeldet wird, ist
er schnell zur Stelle, um die Regionalfenster von Fernsehsendern mit blutigen
Bildern zu versorgen. Gonzos journalistisches Ethos, so H.P. Karr, sei bestenfalls
mittelprächtig. "Das Leben schreibt nicht die besten Geschichten und manchmal
muss man ein bisschen nachhelfen. Solange es der Sache dient. Das entscheidet er
dann von Fall zu Fall."
Mit seinem Job ist Gonschorek zufrieden, zumindest dann,
wenn er gerade einmal genug verdient. Ist das nicht der Fa]]. verdingt er sich
auch stunden- und tageweise. "Das geht bis hin zur Billig-Porno-Produktion
im Sommerloch", sagt Walter Wehner. Gonschorek ist nicht gerade das
Paradebeispiel eines vorbildhaften Freiberuflers, und privat ist er nicht
weniger Ekel als im Beruf. Freundschaften pflegt er nur dann, wenn sie
gelegentlich einen Tipp einbringen. Beziehungen übersteht er allerhöchstens bis
zur Zigarette danach. Und Freundlichkeit ist ihm dermaßen fremd, dass man sich
wundert, wie es überhaupt jemand länger als nötig bei ihm aushalten kann.
"Er ist nicht unbedingt der Typ, mit dem man sechs
Wochen Urlaub in Kanada machen würde", kommentiert Walter Wehner.
Unter Videogeiern
Wer die Idee hatte, einen Videogeier als Krimihelden zu
wählen, wissen die Autoren heute nicht mehr. Sie sehen Gonzo als
Gemeinschaftsprodukt. Wehner: "Wir wollten keinen Detektiv oder
Journalisten, aber trotzdem eine Figur, die überall sein kann, ohne dass man das
begründen muss." Das Wagnis, von einem unfreundlichen Negativhelden mit
menschlichen Schwächen zu erzählen, nahmen sie bewusst in Kauf. "Das ist
gerade das Interessante", meint H.P. Karr. "Irgendein Muster
nachzuschreiben, das es bereits gibt, ist bei weitem nicht so spannend wie das
Abseitige und Neue." .
Der erste Gonzo-Roman erschien 1994, und jetzt, nach acht
Jahren, kam die' Karriere des Krimiduos erst richtig in Gang. Für "Geierfrühling"
ernteten sie hervorragende Kritiken und "Rattensommer", der Nachfolgeband
gewann 1996 den wichtigsten Preis deutschsprachiger Krimischriftstel1er, den
"Glauser".
Das Risiko, das die beiden mit Gonzo Gonschorek
eingegangen waren, hatte sich ausgezahlt. Angesichts solcher Erfolge konnten
Karr & Wehner bei ihrem neuestem Revierabenteuer "Hühnerherbst"
um so entspannter zu Werke gehen. Skurrilen One-Night-Stands, allzu dollen Schlägereien
und den fiesen Gesellen von der Russenmafia geht Gonzo Gonschorek diesmal aus
dem Weg. Er ist Mitte 40; Wodka. Tiefkühlpizzas und durchzechte Nächte fordern
ihren Tribut. Sentimentalität wäre zu viel gesagt, aber vielleicht braucht er
ein wenig Zeit, um über sich nachzudenken. Und wenn er die Chefin vom
Kaufhaus-Sicherheitsdienst trifft - ist da nicht ein kleines Flirren in der Luft?
Sollte der lonesome rider auf seine alten Tage etwa doch noch beziehungsfähig
werden?
H.P. Karr, der eigentlich Reinhard Jahn heißt, hat früher
als Journalist, Ghostwriter und Ratekrimitexter gearbeitet; Walter Wehner ist
promovierter Germanist, als Studienleiter bei der VHS Essen angestellt und eigentlich
Lyriker. Zwei freundliche Männer um die 40, deren sarkastische Gelassenheit nur
eines stören kann - wenn man ihre Romane
als "Regionalkrimis" bezeichnet. Zu oft wurden solche Bezeichnungen
abwertend benutzt.
"Für regionale Literatur, die auch nur regionale
Bedeutung hat. Gut gemeint, aber letztendlich Heimatliteratur."
Karr & Wehner sehen sich dagegen als Chronisten
modernen Großstadtlebens. Gonzo Gonschorek als klassischen urbanen Workoholic.
Dass ihre Großstadtgeschichten, im Ruhrgebiet angesiedelt sind, habe nur einen
Grund: "Wir schreiben über das Revier, weil wir uns hier auskennen. Wir
wollen sehen, was in diesem Ballungsraum zwischen Duisburg und Dortmund
passiert."
"Sehen", das ist in diesem Fall wörtlich zu
nehmen. Die tägliche Recherche besteht für das Autorenduo darin, mit offenen
Augen durch die Welt zu gehen. Wehner: "So findet man die Geschichten, die
eine ganze Region kennzeichnen."
Erst wenn sie die Story fest umrissen im Kopf haben, beginnt auch das
konkrete Nachfragen. "Einmal wollten wir etwas über Bunker herausfinden.
Also habe ich den entsprechenden Kollegen in der Stadtverwaltung besucht. Der
legte die Akte auf den Tisch - und musste plötzlich zur Toilette. Zufällig
dauerte das an diesem Tag etwas länger - und hinterher wussten wir, was wir
über Bunker wissen wollten. Außerdem gibt es Bekannte bei der Polizei und den
Fernsehsendern, die bestätigen, dass man etwas richtig gemacht hat·- oder
nicht. Und manchmal ist man ziemlich überrascht - man hat etwas erfunden, das
es schon gibt. Etwa diese Pommesbude im Stadthafen. Als wir vor Ort
nachrecherchiert haben, stand da genau die Pommesbude, die wir erdacht hatten.
Im nachhinein ist das natürlich klar: Stadthafen, Arbeiter, Pommesbude. Insofern
erfindet man gar nicht so viel, sondern beschreibt, was sein könnte."
Stadthafen, Arbeiter, Pommesbude.
Karr & Wehner sind ein eingespieltes Team, eine festgelegte
Aufgabenteilung gibt es nicht. Sie treffen sich einmal pro Woche, gehen spazieren
und später zum Essen. "Wir schreiben nie etwas auf. Wir reden nur. Wenn
wir eine Idee nach einer Woche nicht vergessen haben - dann ist an der Story
was dran." Einer von bei den beginnt mit dem Schreiben, anschließend
wandert der Text so lange hin und her, bis die Schlussredaktion fällig ist.
"Das ist einer der Gründe für unsere Teamarbeit: Man hält sich nicht nur
die Stange, sondern lektoriert sich gegenseitig", so Walter Wehner.
"Das verkürzt den Schreibprozess gewaltig", fügt
H.P. Karr hinzu. "Und das zu kürzen, was der andere geschrieben hat, fällt
natürlich viel leichter."
Zu Meinungsverschiedenheiten kommt es dabei nur selten.
"Es gibt schon mal ein Nachfragen, aber darauf folgt meistens eine Begründung,
die auf Stoff und Handlung fußt." Außerdem gäbe es ja während des
Schreibens sowieso nur noch Kleinigkeiten zu besprechen, meint Walter Wehner. "Wir
haben ja den großen Plan der Erzählung schon vorher."
Neun Monate dauert es insgesamt, bis auf diese Art und
Weise ein Roman entstanden ist.
Karr: "Wir brauchen ein halbes Jahr zum Vorbereiten
und drei Monate zum Schreiben."
Wehner: "Wenn wir nicht mehr wissen, in der
wievielten Korrektur wir gerade sind, ist das ein Zeichen, dass es langsam
hinhaut."
Karr: "Wenn das Chaos einsetzt... "
Wehner: "…dann wissen wir, es hat geklappt."
Karr: "Und richtig fertig ist ein Roman, wenn mir
die aktuelle Datei im Computer abstürzt, nachdem ich gerade 20 Seiten
korrigiert habe. Das war bis jetzt immer so."
Ulrich Noller:
Großstadtchronisten - Die Kriminalromane von H.P. Karr und Walter Wehner
Großstadtchronisten - Die Kriminalromane von H.P. Karr und Walter Wehner
In: Einblick, Köln Heft 5/1997 (Mai)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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