Zur Typologie des Kriminalromans:
Der Krimi war stets
Massenware, sein Dogma — wie bei aller U-Literatur: »Du sollst nicht langweilen«
Die generalisierend
als »Krimi« bezeichnete Literatur läßt sich nach verschiedenen Kriterien sinnvoll
weiter unterteilen. Reinhard Jahn, Krimi-Autor und Mitbegründer des Bochumer
Krimi-Archivs‚ liefert eine Typologie des Kriminal-Romans und zeigt aktuelle
Entwicklungen auf.
Faktenstand: 1995 / Erstveröffentlichung:
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14.Juni 1995, Seite 78-80
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14.Juni 1995, Seite 78-80
Die Wurzeln des Genres
sind von der Literaturwissenschaft in frühen Verbrechenschroniken‚ Räuber- und
Schauerromane und den Schriften der Aufklärung aufgespürt worden, sein erster
Meilenstein erschien im April 184l in »Grahams Magazine«: Edgar Allan Poes
Story »The Murders in the Rue Morgue« enthält alle Elemente, die einen »Krimi« prägen:
Ein geheimnisvolles Verbrechen und einen Detektiv, der seinen Umständen und
Motiven nachspürt, um es aufzuklären. Poe beleuchtet das Böse aus der Perspektive
des rational denkenden Menschen, seine Geschichte ist die einer »Detektion«,
einer Aufklärung mit den Mitteln eines scharfen Geistes
und der Logik.
Detektiv-Geschichten: Die Frage nach dem »Who done it?«
Poe faßte diese
Grundkonstellation in eine Form, die später als »Detektivgeschichte« bezeichnet
wurde. Das Rätselelement steht im Vordergrund, und sein Detektiv Dupin klärt
den Mord an einer Mutter und ihrer Tochter in einem verschlossenen Raum anhand
von Indizien und Schlußfolgerungen.
Solche Detektivgeschichten
sind eine der drei Säulen des Krimi-Genres, ihre »Wer—war’s?«—Struktur ist
inzwischen klassisch. Autoren wie Arthur Conan Doyle und in seiner Nachfolge
Agatha Christie perfektionierten das Schema vom komplizierten Verbrechen, das
den detektivischen Scharfsinn ihrer Helden Sherlock Holmes und Hercule Poirot
herausgefordert hat. Mit einem ausgefeilten Instrumentarium an Indizien,
falschen Alibis und toten Spuren wurde im »golden age« der Kriminalliteratur
ein intellektuelles Versteckspiel vor dem Leser inszeniert. Nachdem gegen Ende
der fünfziger Jahre alle Variationen durchgespielt erschienen, verloren die »whodunnits«
(von »Who has done it?«) an Bedeutung und nahmen bis zu ihrer Wiederbelebung in
jüngster Zeit ihren Platz im Repertoire des Genres ein.
Thriller: Vom »Whodunnit?« zum »How get them?«
Gehen die klassischen
Detektivgeschichten noch davon aus, daß der Mensch an sich logisch denkt und
handelt und deshalb einem Verbrecher seine Tat auch mit reiner Logik
nachgewiesen werden kann, so zeichnen die sie ablösenden Thriller ein ganz
anderes Bild. In Dashiell Hammetts »Bluternte« (1929) ist das Verbrechen nicht
mehr die aufsehenerregende, ausgetüftelte Tat,sondern eher das alltägliche
Geschehen.
Der Held eines Thrillers
erhebt sich zwar durch seine moralische Einstellung über das Böse, macht sich
aber bei seincr Bekämpfung auch ohne weiteres dessen Strategien zu eigen.
Gewalt ist an der Tagesordnung, kaum jemand ist ohne Schuld.
Die Story wird im
Thriller nicht mehr von dem Rätsel des »Wer war’s?« vorangetrieben, sondern von
der Frage, wie der Held das Böse in seinem Sinne besiegt. Gedankenkombination
wird von Aktion abgelöst, aus der intellektuellen Verfolgung wird die Hetzjagd:
»How get them?« statt »Whodunnit?«
Die »Thriller«, die Nervenkitzler,
die später in Hollywood-Filmen zur »schwarzen Serie« wurden, sind die zweite
Säule des Krimis. Keine gescheiten Salonstücke auf britischen Landsitzen, sondern
eher Gescllschaftsromane aus der Neuen Welt. Hier dominiert die
Zukunftsspannung, das Rätselelement des klassischen Detektivromans taugt nur noch
für untergeordnete Spannungsbögen. Die Logik, mit der Meisterdetektive wie
Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Lord Peter Wimsey am Ende ihrer Abenteuer
im Finale alle Fäden des Mordfalles entwirrten, täuscht beispielsweise Raymond Chandler
nur noch als Reminiszenz an das Genre vor, wichtiger ist jetzt der Showdown.
Psycho-Thriller: »Inverted stories« — Der Täter wird zur Identifikationsfigur
Mit der Form des
Thrillers hatte sich der Kriminalroman an historische Entwicklungen wie etwa die
der Industrialisierung und das Entstehen der Massengesellschaft angepaßt. Eine
weitere Anpassung erfolgte dann Mitte des 20 Jahrhundert, als sich die
Erkenntnisse der Psychoanalyse über das Böse im Menschen durchsetzten und man
die Motive für Verbrechen einer differenzierten Betrachtung unterzog.
Auf diesem Fundament
entstand die dritte Säule des Genres — die der psychologisch orientierten Kriininalromane.
Psycho-Thriller wie »Der Fremde im Zug« (1950) und »Der talentierte Mr. Ripley«
(1955) der jüngst verstorbenen Patricia Highsmith zeigen archetypisch für diese
Gruppe die Entwicklung und Motive eines Verbrechens. Als Identifikationsfigur wird dem Leser jetzt der Mörder
geboten, der Detektiv steht auf einmal als Bedrohung auf der Gegenseite,
Spielt die Geschichte
dagegen nicht wie bei den klassischen »Psychos« im gehobenen Bürgertum, sondern
in der Unterwelt, hat man es mit Gangsterromanen zu tun, die ihre Handlungsmuster
aus der Umkehrung des Thriller-Modells beziehen.
Das Böse ist überall: Agenten- und Spionageromane
Nicht als tragende
Säule, aber doch als wichtiger Pfeiler des Kriminalromans sollte man auf jeden Fall
noch den Zweig der Agenten- und Spionageromane erwähnen. Mit »Das Rätsel der
Sandbank« (1902) von Erskine Childers entwickelte er sich über Polit-Thriller
wie Eric Amblers »Die Maske des Dimitrios« (1939) in der Zeit des Kalten Krieges
zu Ian Flemings »James-Bond«—Romanen bis hin zu zeitgenössischen
Terrorismus-Thrillern wie »Der Schakal« (1971) von Fredrick Forsyth.
Wo Detektivromane und
Thriller von Individuen und ihrem Kampf mit dem Bösen erzählen, erheben diese
Geschichten den zentralen Konflikt auf ideologisches
und politisches Niveau.
Aktuelle Trends und Tendenzen: Klassische Detektivkrimis wieder im Kommen
Der Kriminalroman war
stets Massenware, er hat wie jedes andere Genre seine eigenen Gesetze, Von
denen das wichtigste das Dogma jeder Unterhaltungsliteratur ist: »Du sollst
nicht langweilen.«
In einer Mischung aus
Traditionalismus und behutsamer Innovation, geplanten Regelverletzungen und
ständiger Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und kurzlebige
Mode-Trends haben sich bis heute auf der Basis der drei Säulen des Genres eine
Reihe von Krimi-Typen herausgebildet, mit der die Autoren das breite
Interessenspektrum der Krimifans abdecken.
So erfreut sich nach
einer Phase der Stagnation seit einigen Jahren der klassische »Whodunnit« mit
seinen zur Identifikation einladenden Detektiven
wieder großer
Beliebtheit. Autorinnen wie Ruth Rendell, Martha Grimes und Elizabeth George
haben mit ihren Inspektoren Wexford, Jury und Lynley das Erbe von Agatha
Christies Poirot und Dorothy Sayers« Lord Peter Wimsey angetreten.
Ebenfalls auf den
Spuren des klassischen Detektivkrimis wandeln die Milieuromane, in denen das traditionelle
britische Kleinstadt- und Landhaus-Ambiente durch andere Schauplätze wie etwa
Universitäten (Amanda Cross), Rennplätze (Dick Francis) oder Anwaltskanzleien
(Erle Stanley Gardner) ersetzt wird. Mit religiösem Ambiente und Gedankengut
durchsetzt wurde der klassische Krimi bereits mit dem ersten Auftreten von
Pater Brown (G. K. Chesterton), heute setzen Pater Koesler (William X. Kienzle)
und Rabbi David Small (Harry Kemelmann), diese Tradition fort. Ebenfalls
Kleriker ist der Benediktinermönch Bruder Cadfael (Ellis Peters), der seine
Mordfälle im l2. Jahrhundert löst und dessen Abenteuer damit zugleich auch in
die Gruppe der Epochen- oder Historienkrimis fallen, eine Mischung. die sich
seit Umberto Ecos »Der Name der Rose« größter Beliebtheit erfreut.
Als Reaktion auf die
Ausweitung von Polizeiorganisationen und die veränderten Bedingungen der Verbrechensbekämpfung
entwickelten Autoren aus dem Modell des klassischen Krimis mit seinem Einzelermittler
den Polizeiroman, in dem eine
Gruppe sich mit der
Lösung zumeist ganz unterschiedlicher, ineinander verschachtelter Fälle befasst.
Zum Klassiker dieser »police procedurals« wurde Ed McBains Serie um die Beamten
des »87. Polizeireviers«, die in ihren bisher mehr als 40 Bänden die
Entwicklung einer amerikanischen Großstadt und die zunehmende Brutalisierung
des Alltags von 1956 bis heute beschreibt.
Anpassung an gesellschaftliche Zustände - das organisierte Verbrechen wird Thema
Weniger dynamisch
entwickelten sich Thriller der »hardboiled
school« mit ihren Privatdetektiv-Helden. Als Einzelkämpfer in Philip Marlowes Tradition
überlebten den kurzen Boom der Privatdetektivromane in den USA der 60er Jahre
nur die Serien um »Spenser« von Robert B. Parker, »Amos Walker« von Loren D.
Estleman und jene um den namenlosen Detektiv von Bill Pronzini. Der einsame
Held im Kampf gegen das Böse wurde mehr und mehr zum Anachronismus, wenn er
nicht radikal an die gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst wurde, wie z.
B. bei dem Rächer »Burke« von Andrew Vachss. Als Gegenbewegung zum Verfall der
zeitgenössischen Privatdetektivromane entstanden die in »klassischer Manier« geschriebenen
und im Amerika der 40er Jahre angesiedelten Schnüfflerserien um »Nate Heller« (Max
Allan Collins) und »Toby Peters« (Stuart Kaminsky).
Einen Boom erlebten
dagegen die Unterweltromane, in denen der Gangster als wahrer Held des 20.
Jahrhunderts erscheint und das organisierte Verbrechen mit all seinen
Verzweigungen sich in nichts von jedem beliebigen Großkonzern unterscheidet.
Zwei der derzeit besten Krimi-Autoren - Elmore Leonard und Tom Kakonis - haben sich auf diese Spielart des Genres
spezialisiert.
Irre und Killer: Im modernen Psyche-Thriller ist das Böse Alltagserscheinung
Als bestes Modell, um
aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden, hat sich allerdings der Psycho-Thriller
erwiesen, dessen derzeit erfolgreichste Abspaltung die aktuellen »Psychopathen-Romane«
sind. Das Böse wird, wie etwa in »Stiller Schrecken« («Silent terror«. l986)
von James Ellroy, zur Identifikationsfigur oder zumindest wie in den »Hannibal-Lecter-Romanen
von Thomas Harris zum übermächtigen Gegenpart der Ermittler, die letztlich
erkennen, dass der Mörder, den sie jagen, nur jene dunklen Charakterseiten
auslebt, die sie selbst unterdrücken. Das Böse ist nicht mehr Ausnahmeerscheinung,
es ist Alltag.
Der europäische Krimi hat erst spät eigenes Profil gewonnen
In Europa haben sich
erst im Lauf der letzten 30 Jahre einzelne nationale Krimiszenen mit einigen
Subgenres entwickelt. Von denen der französische
»roman noir« als
Mischung von Psycho-Thriller und Polizeiroman das bekannteste ist.
Als Fußnote wird
dagegen der sozialistische Kriminalroman in die Genregeschichte eingehen, der
sich in der ehemaligen DDR entwickelte. In seiner sehr traditionellen Gestaltung bediente man sich hier überwiegend der Schablonen des
klassischen Detektiv- und Polizeiromans, um sie im Stil des sozialistischen
Realismus auszumalen.
Im übrigen deutschen
Sprachraum entstand in den 70er-Jahren nach dem Vorbild der »Martin-Beck«—Serie
des schwedischen Autorenteams Sjöwall/Wahlöö der sogenannte »Sozio-Krimi« als
erste ernstzunehmende Adaption der Genremuster.
Autoren wie -ky‚ Michael
Molsner und Friedhelm Werremeier benutzten die Elemente des klassischen
Polizei- und Detektivromans als Projektionsfläche, um ihre Theorie von den
gesellschaftlichen Ursachen des Verbrechens darzustellen.
Ähnlich verwendeten
später nicht nur die deutschen Autorinnen des »Frauenkrimis« die traditionellen
Handlungsraster aller Typen des Kriminalromans, um feministische und
emanzipatorische Inhalte zu transportieren. Inzwischen hat sich diese Form
unter dem Eindruck eines florierenden Marktes zum
traditionellen Frauenkrimi entwickelt, der sich lediglich dadurch auszeichnet, dass
er in den klassischen Genreformen das männliche Hauptpersonal gegen weibliches
austauscht.
Reinhard Jahn
Erstveröffentlichung:
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14. Juni 1995, Seite 78-80
Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14. Juni 1995, Seite 78-80
Reinhard Jahn - Zur Typologie des Kriminalromans - Erstveröffentlichung: Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14. Juni 1995, Seite 78-80 |
Reinhard Jahn - Zur Typologie des Kriminalromans - Erstveröffentlichung: Buchreport, Dortmund, Nr. 24/1995 — 14. Juni 1995, Seite 78-80 |
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Klassische
Detektivkrimis
sind wieder »in« —
insbesondere englischsprachige Autorinnen wie Ruth Rendell und Martha Grimes
haben dem Genre zu neuer Blüte verholfen
Der europäische Krimi
hat
erst allmählich und unter der nach wie vor bestehenden angloamerikanischen Dominanz
ein eigenes Profil entwickelt; er hat dabei häufig
bereits erfolgreiche Muster adaptiert
Reinhard Jahn
ist Mitbegründer des
seit 1984 bestehenden Bochumer Krimi-Archivs (BKA), das Primär- und
Sekundärliteratur zum Thema Krimi sammelt und seit elf Jahren den einzigen
Krimis vorbehaltenen Kritikerpreis im deutschen Sprachraum («Deutscher
Krimi-Preis »verleiht. — Unter dem Pseudonym H. P. Karr hat Jahn 1992 das »Lexikon
der deutschen Krimi-Autoren« auf Diskette veröffentlicht und zuletzt bei Haffmans
die Krimis »Geierfrühling« und »Rattensommer« herausgebracht..