3.7.12

Der Gute und das Böse
Plötzlich ist der Böse der Gute.



Negative Helden.
Das Gute kann nur durch das Böse existieren - und im Krimi kann der Detektiv nur durch den Täter - in der Regel ein Mörder - existieren. Mehr noch: Ohne den Täter gabe es keine Berechtigung für den Detektiv. Ohne Mörder keinen Mord, ohne Mord keine Aufklärung.
Einer der ersten großen Bösewichter: Prof Moriarty, der von seinem Gegenüber Sherlock Holmes der "Napoleon des Verbrechens" genannt wird. Moriarty war dem Meisterdetektiv aus der Baker Stree intellektuell ebenbürtig, verstand das Verbrechen als Kunstwerk und nicht selten auch als Herausforderung an seinen gegner. Die Sherlock Holmes gern annahm.
Der Täter - das Böse - als das zerstörerische Element, gegen den der Detektiv - der Gute - mit ordnender Hand antritt, indem er klärt und erklärt, das Unentdeckte entdeckt und die Ordnung wieder herstellt, die vor dem Verbrechen herrschte. Beziehunsgweise der Ordnung (dem Recht) zur Geltung verhilft - indem er den Täter überführt und dem Rechtssystem zuführt.

Bei der klassischen Detektiverzählung - auch gern Rätselkrimi genannt - verfolgen wir den Ermittler bei seiner Arbeit und erfahren erst am Ende die Identität des Täters. Unsere Identifikation mit dem Helden ist groß, wir teilen seine moralischen Werte und seine Abneigung gegen das Verbrechen, wir wollen genau wie er: Klarheit, Wahrheit, Gerechtigkeit.

Und was ist, wenn die Geschichte andersherum aufgezogen wird? Wenn wir als Leser auf der Seite des Verbrechers (des Nonkonformisten, des Regelverletzers) stehen? Dann haben wird es - technisch gesehen, zunächst einmal mit einer "inverted story" zu tun, einem Krimi mit umgedrehten Vorzeichen, ein Roman, der zunächst die Tat und den Täter schildert und dann die Versuche des Detektives verfolgt, die Tat aufzuklären und den Täter zu überführen.
Da erfahren wir also von Anfang an (und nicht erst retrospektiv) etwas über Enstehung und Motivation eines Verbrechens, und es geschieht zwangsläufig etwas, was ein klassischer Rätselkrimi vermeidet: dass wir im folgenden Duell zwischen Täter und Ermittler wahrscheinlich eine deutliche Empathie mit dem Täter entwickeln, dem wir es vielleicht sogar gönnen würden, ungeschoren davonzukommen. Aber selbstverständlich passiert das bei der klassischen umgedrehten Krimigeschichte nicht - die inverted story ist und bleibt nur ein Spannungs- und Rätselspiel.
Als einer der ersten spielte dieses umgekehrte Spiel Francis Iles mit seinem Romnan  Before the fact (dt: Vor der Tat) im Jahr 1932. Iles war fest in der britischen Tradition des Goldenen Zeitalters mit seinem Landhaus- und Rätselkrimis verwurzelt, als er dann plötzlich die klassische Erzählung ganz anders präsentierte: von der Seite zwar nicht des Mörders, aber des Opfers: Die wohlhabende Lina McLaidlaw verliebt sich in den charmanten, aber abgebrannten Johnnie Aysgarth, sie heiraten und Lina übersieht - will die nächsten zehn Jahre übersehen, dass ihr Gatte ein Gauner, Dieb, Ehebrecher und womöglich auch ein Mörder ist. Sie erlebt sogar, wie Johnnie sich mit einer befreundeten Krimi-Autorin über die tödliche Wirkung bestimmter Gifte unterhält -  und trinkt später das Glas, das Johnnie ihr reicht, leer und stirbt. Nach heutigen Begriffen würden wir Johnny Assgarth einen durchschnittlichten Soziopathen nennen:  egoistisch, selbstzentriet, unfähig zur Empathie - also der negative Held par excellence.
(Wem die Geschichte jetzt irgendwie bekannt vorkommt: Ja, der Roman wurde von Hitchcok als "Suspicion" ("Verdacht") verfilmt, freilich mit einem anderen, positiven Schluss.)
Und Francis Iles ging mit seinen Experimenten sogar noch einen Schritt weiter - er schrieb Malice aforethought (Dt: Vorsätzlich). Gleich der erste Satz gibt die Richtung an: Dies ist ein ganz anderer Krimi:
"Erst mehrere Wochen, nachdem er sich entschlossen hatte, seine Frau zu ermorden, machte Dr. Bickleigh die ersten Schritte in dieser Richtung. Mord ist schließlich eine ernste Angelegenheit." - Francis Iles, Vorsätzlich (1931),

Das klingt heute wie der Anfang eines COLUMBO-Films - und nichts anderes ist ja auch das Prinzip der COLUMBO-Filme: Die Schilderung der möglichst ausgefeilten Tat mit dem folgenden intellektuellen Duell mit dem nur scheinbar trotteligen Trenchcoat-Insektor. Die inverted story ist zum festen Bestandteil des Genres geworden.

Zeitgleich mit den Versuchen von Francis Iles und seinen Zeitgenossen macht das Böse zugleich auf de anderen Seite des Atlantik einen weiteren Schritt ins Zentrum des Krimis:. Und zwar in Person eines Kleinkriminellen, der es bis an die Spitze des organissierten Verbrechens schafft: Rico Bandello, genannt "Little Ceasar" legt in dem gleichnamigen Roman von W.R. Burnett (1929) eine typisch amerikanische selfmade-man-Karriere hin, bis ihn am Ende die Polizeikugeln durchsieben. Eine Karriere genau wie Tony Camonte, genannt"Scarfce", im Film vom 1932, der auf einem Roman von Armitage Tail basiert.
Diese Gangstergeschichten waren etwas ganz anderes als die eher akademischen Mordgeschichten der britischen Schule, die eigentlich nur das Prinzip des Landhauskrimis auf den Kopf stellten. "Little Ceasar" und "Scarface" bezogen ihre Vorlagen mehr oder weniger aus der Realität der roaring twenties in den USA  - die Geschichte von Scarface Tony Camonte ist mehr oder weniger frei der Karriere von Al Capone nachempfunden, jenes Großgangsters, der in den 20er und 30-Jahren die Unterhalt Chicagos kontrollierte und nach den Prinzipen modernen Managements organisierte (weshalb er quasi am Ende konsequenterweise auch nicht wegen seiner Gewaltverbrechen verurteilt wurde, sondern wegen Steuerhinterziehung).

Mit der Gangster-Biographie kiommt zugleich die action ins Genre (oder sie kommt zurück, denn die klassischen Vorläufer wie etwa "Die Geheimnisse von Paris" von Eugene Sue und andere Feuilletonromane waren ja bereist voller Aktion gewesen). Zugleich verschränkte das Gangster-Bio-Pic den britischen Krimi mit dem amerikanischsten aller Genres: dem Western. Aus ihm übernimmt er die Figur des Helden, der bestehen muss - vor sicht selbst und vor den anderen. In diesem Sinne sind diese "neuen Krimis" auch Entwicklungsromane, die den Weg ihres Helden zeigen. Diese Dynamik unterscheidet die amerikanischen Krimis deutlich von den statischen britischen Stories - es gibt bei Agatha Christie keine tiefgreifende Entwicklung ihrer beiden Figuren Miss Marple und Hercule Poirot, und lediglich Dorothy Sayers hat ihren Helden Lord Peter Wimsey mit ihrer Schilderung seiner Beziehung zu Harriet Vane so etwas wie "ein Leben" eingehaucht.

In der erneuten Verschränkung von Inverted Story mit der neuen Spielart des Entwicklungsromans betritt eine gänzlich neue Figur die Szene - "Der talentierte Mister Ripley" (1955) von Patricia Highsmith ist einer der ersten Mörder (im klassischen Sinn), die nicht gefasst und der Gerechtigkeit überantwortet werden - und die offenbar aus rein hedonistischen Motiven töten. Der negative Held par excellencce sozusagen.
Dieser Tom Ripley ist ein "amoralischer hedonistischer Krimineller", heißt es, der gleich zu Anfang den etwas dümmlichen amerikanischen Millionär Dickie Greenleaf umbringt,um dessen Identität (und dessen Vermögen) zu übernehmen. Aber man kann die Geschichte auch anders, psychologisch lesen - als den verzweifelten Versuch des entwurzelten, latent homosexuellen Tom Ripley, eins mit seiner großen Liebe Dickie zu werden, indem er ganz und gar er wird.

In gewisser Weise Ripley illegitimer Bruder ist inzwischen eine Ikone des Krimis (oder sagen wir: des Thrillers) geworden: James Bond - der Agent 007 Ihrer Majestät ist ein Hybrid: als Repräsentant des Guten (eben "Seiner Majestät") ist er ermächtigt (von eben dieser Majestät), zu töten, sich mithin außerhalb des kodifzierten Rechtssystems zu bewegen. Bond ist mit seiner Sex- und Spiel-Sucht (andere fügen noch Alkoholsucht hinzu) ebenso hedonistisch veranlagt wie Tom Ripley und wird moralisch nur ein klein wenig mehr vom Bösen seines Tuns bewegt als Ripley. Bond ist ein Kind des Krieges, und zwar nicht nur das Kalten Krieges, sondern des gerade zu Ende gegangenen zweiten Weltkrieges: nicht zufällig ist/war als Commander des Royal Navy ein Soldat - und als solcher eingebunden in ein System von Befehl und Gehorsam, das eine Reflexion über die Richtigkeit des eigenen Tuns nicht unbedingt fordert. Nach seinem Wechsel in den Geheimdienst ihrer Majestät (der er ja schon als Soldat diente) hat sich diese Struktur nicht geändert: sein Vorgesetzter M ist sein Befehlshaber und auch der einzige, dem er Rechenschaft schuldig ist. Was für Bond aus der Innensicht vollkommen logisch und gerechtfertigt erscheint - als Soldat zu arbeiten und zu töten - erscheint aus er Außensicht freilich moralisch zumindest fragwürdig.
Gerechtfertigt werden kann hier Bonds Arbeit nur durch ein "höheres Ziel", seinen Einsatz gegen das "Böse", wobei damit gemeint ist, dass das BÖSE noch böser ist als Bond - die Agneten von SMERSH etwa, oder seine übermächtig und übermäßig durchgeknallten Gegner wie Sir Hugo Drax oder Auric Goldfinger.
Das "Böse" an ihnen ist meist, das sie sich eben keinem höheren Ziel unterworfen haben, sondern eben nur dem übertriebenen Individualismus oder der reinen Geld- bzw Machtgier frönen.


Was Bond im globalen Maßstab leistet, das besorgen die zahllosen amerikanischen Privatschnüffler im kleinen auf denm Straßen von Chicago oder San Francisco, in Los Angeles und New York. Dabie sind aber Philip Marlowe und Sam Spade nicht wirklich böse, sondenr nur ein bisschen, auch wenn sie ihr Ego mit dem Mythos vom einsamen Ritter der gegen das Verbrechen anzutritt ein bisschen aufzuwerten versuchen. Doch im Grunde genommen sind sie genau woe Bond nur Sodlaten des letzten Krieges, die sich allerdings im Gegensatz zu dem britischen Superagenten nicht wieder unter die Befehlsgewalt einer pseudo-militäsichen Organisation begeben haben. Marlowe und Co operieren allein, nur schwach durch ihre Freunde bei der Polizei an die Ordnungsmacht angebunden - aber sie machen sich auch nicht gemein mit deren Gegner, dem Mob und seinen Mobstern.